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    The Man From London
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Man From London
    Von Christian Horn

    Das Kino ist mit allen anderen Kunstformen aufs Engste verwandt: Es kann sie benutzen, wenngleich es sie nicht ersetzen kann. Das rein Filmische ist das audiovisuelle Erzählen mit bewegten Bildern, die Inszenierung von Raum und Zeit mit den Mitteln der übrigen Kunstformen und durch die Montage. „The Man From London“, der neue Film des ungarischen Autorenfilmers Béla Tarr („Satantango“), ist eine filmische Erzählung, die alle diese Möglichkeiten und Bausteine des Kinos auf höchstem Niveau auslotet. Der 2009 im Wettbewerb von Cannes vertretene Film ist ein künstlerisch absolut stilsicherer, formalistischer, entschleunigter Film Noir, in dem jede Einstellung ihren Sinn hat, jedes Bild makellos komponiert ist und jedes Motiv bedacht wurde. „The Man From London“ ist kein Unterhaltungsfilm, im Gegenteil: Nie versucht er, den Zuschauer mit der großen Trickmaschine Kino zu überwältigen. Aber wenn man erst mal drin ist, dann wird es plötzlich sogar spannend: Ganz leise und überlegen hat Béla Tarr den Betrachter dann verführt - und das ganz abseits vom üblichen Kunstkino-Getue.

    Maloin (Miroslav Krobot, Der Dorflehrer) arbeitet als Gleisrangierer an einem Bahnhof, der direkt am Hafen liegt. Während einer Nachtschicht beobachtet er von seinem Rangierturm aus einen Mord, bei dem ein Koffer ins Wasser fällt. Der Koffer, den Maloin aus dem Meer zieht, ist voller Geld. Seiner Tochter (Erika Bók) und seiner Frau (Tilda Swinton, The Limits Of Control) verheimlicht er diesen Fund, während sich der wahre Besitzer Brown (János Derzsi, Kontroll) an seine Fersen heftet. Es dauert nicht lange und ein geheimnisvoller Inspektor aus London (István Lénárt, „Dealer“) betritt die Szenerie…

    „The Man From London“ erzählt seine Geschichte, die lose auf dem gleichnamigen Kriminalroman von Georges Simenon basiert, vornehmlich mit schwarz-weißen, streng komponierten und arrangierten Bildern. Jedes einzelne dieser Bilder ist ein großartiges Foto, das die Möglichkeiten der Stilisierung durch Licht und Schatten mustergültig ausschöpft – Kameramann Fred Kelemen legt eine schlicht vollendete Leistung vor. Gesprochen oder gar erklärt wird nur wenig in Béla Tarrs Film. Der Mord zu Beginn wird etwa von Maloins Rangierturm aus gezeigt, durch die Scheibe, aus einer erhöhten, beobachtenden Perspektive. Kein Schrei, keine dramatische Musik und auch kein Reaction Shot auf Maloin, der soeben Zeuge dieser Tat geworden ist: Ganz selbstbewusst verzichtet „The Man From London“ auf das alles – man hat ja, wenn man aufmerksam war und die Bilder gelesen hat, alles gesehen. Warum die Information also doppeln?

    Das nächste markante Merkmal der Inszenierung findet sich ebenfalls im Bereich der Kameraarbeit. In langen Plansequenzen, also Szenen ohne Schnitt, lösen Tarr und sein Kameramann die wenigen Sequenzen des Films auf. Langsam folgt die Kamera den Figuren oder fährt, wenn diese etwa beim Schachspiel am Tisch sitzen, den Raum entlang. So schleicht sie sich ohne Schnitt von einem Tableau zum nächsten, schwenkt von einer komponierten Einstellung in die nächste. Auffällig ist dabei die Ruhe der Sequenzen, die für gewöhnlich eingesetzt werden, um einen Vorgang zu dynamisieren, wie etwa in den Filmen von Paul Thomas Anderson (Boogie Nights, Magnolia, There Will Be Blood) oder zuletzt – nicht minder virtuos wie in „The Man From London“, aber unter gänzlich anderen Vorzeichen – in Alfonso Cuaróns Children Of Men. In Béla Tarrs Film kommen die Protagonisten nie in Eile, sie handeln sehr bedacht und überlegt, Schritt für Schritt – selbst die Flucht eines Tatverdächtigen wird sehr ruhig vollzogen: Und die Inszenierung tut es ihnen gleich. Die Plansequenzen, die als Stilmittel per se ein Gefühl der Echtzeit entstehen lassen, werden in „The Man From London“ ganz gegenläufig zur zeitlichen Dehnung eingesetzt. Die New York Times nennt das ganz treffend „a kind of slow-motion film“. Am schönsten ist Tarrs Film immer dann, wenn er sich kurz für Beiläufiges interessiert und die Kamera ins Abschweifen gerät, etwa auf einen Jungen, der alleine mit einem Ball spielt.

    Spannung erzeugt „The Man From London“ vor allem mittels im besten Sinne Hitchcock‘scher Suspense: Der Zuschauer weiß in vielen Fällen mehr als die Figuren. Schließlich ist „The Man From London“ ein Krimi, auch wenn man das ob der langsamen Erzählweise leicht vergisst: Es gibt einen Mordfall mit Täter, Inspektor und dem Protagonisten, der zufällig in die ganze Sache hinein gerät. Es geht um Geld und darum, dass man sich dafür in Gefahr begibt, und – im thematischen Kern – um Schuld und Moral. Sogar als eine Parabel über Schuld ließe sich „The Man From London“ bezeichnen.

    Sicher: Weil der Film alles, vor allem seine Ruhe und Langsamkeit, bis in die letzte Konsequenz ausführt, ist er auf gewisse Weise so unspektakulär, wie ein Erzählfilm nur sein kann. Er ist sogar ein bisschen langweilig. Und wenn die Sitze im Kino ungemütlich sind, dann kann „The Man From London“ mit seinen 132 zerdehnten Minuten wohl auch zu einer furchtbaren Qual werden: Diejenigen aber, zu denen die ausgereifte, zeitlose Inszenierung und der selbstbewusste Erzählfluss durchdringen, die werden „The Man From London“ so schnell nicht vergessen. Sie werden ihn vielleicht sogar vermissen, auch wenn sie das im Kino – so ungeduldig wie sie waren – nie für möglich gehalten hätten.

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