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    Mitfahrer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Mitfahrer
    Von Nicole Kühn

    Sommer auf der Autobahn: Stau, Enge, ein Kommen und Gehen an den Raststätten. Bei den langen Fahrten schälen sich in Nicolai Albrechts Road Movie „Mitfahrer“ die Charakterzüge der Reisenden komprimiert durch die unumgehbare räumliche Nähe aus der Langeweile. Da prallen oft Welten aufeinander, die man im Gegenüber so gar nicht vermutet hätte. Das Ganze gewinnt einen besonderen Reiz, wenn man die anderen Insassen im Auto nicht kennt, wie es bei Mitfahrzentralen üblich ist. Vorsicht: Mitfahrer!

    An einem hochsommerlichen Freitagnachmittag holt Bademodenvertreter Peter (Ulrich Mattes) seine beiden Mitfahrer Carolin (Anna Brüggemann) und Hilal (Michael Ojake) von der Mitfahrzentrale in Köln ab. Ziel ist Berlin, und Peter ist froh, auf der langen Fahrt Unterhaltung zu haben. Und dann ist Carolin auch noch jung und hübsch, da könnte ja etwas mehr drin sein. Der Schwarze Hilal ist ohnehin wenig kommunikativ. Zur selben Zeit startet Katharina (Jana Thies) mit ihrem etwas älteren Fahrzeugmodell und den Mitfahrern Sylvester (Ivan Shvedoff) und Fabian (Michael Wiesner) von Kassel aus in Richtung Hauptstadt. Der jugendliche Fabian will für ein Wochenende durch die Clubs und Partys ziehen, während Katharina zu ihrem Freund Christoph (Nicolas Wackerbarth) fährt, mit dem nicht alles so rosig ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Genervt sind beide vom ununterbrochenen Mitteilungsdrang des zwielichtigen Sylvester, der es extrem eilig hat, weil dringende dubiose Geschäfte warten. Auf einem Rasthof kommt die nervlich ziemlich aufgeriebene Loubelle (Ingrid Sattes) mit ihrer vorlauten Tochter Rosa (Marie-Terese Katt) ins Spiel. Eigentlich nimmt sie aus Prinzip keine Anhalter mit, und gerade im Moment ist der Stress mit dem eigenen Mann groß genug, um sich nicht noch weitere Komplikationen mit einem Fremden einhandeln zu müssen. Dennoch verstößt sie gegen die selbst gesetzte Regel.

    Bis alle Damen und Herren in Berlin ankommen, werden einige die Autos, andere ihr Reiseziel gewechselt und einige Konflikte mit den anderen Mitfahrern erlebt haben. Dort trennen sich die Wege naturgemäß. Doch für die meisten geht der Weg sonntags auch wieder zurück, für die einen geplant, für die anderen unvorhergesehen. So treffen doch einige Figuren wieder aufeinander, und wieder werden die Würfel neu gemischt. Während die einen mehrmals versuchen, ihre Wege sich kreuzen zu lassen, finden andere zueinander, die diese Bekanntschaft lieber nicht gemacht hätten. Allen gemeinsam ist, dass sie aus diesem Wochenende wie aus einer emotionalen Sauna hervorgehen: mehr oder weniger angenehm erschöpft, entschlackt und dafür um einige Erfahrung reicher. Sie alle werden sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf eine Reise begeben, mit anderen Zielen, anderen Wünschen und Hoffnungen, aber sicher werden sie wieder auf der Suche nach Mitfahrern sein.

    In seinem ersten abendfüllenden Spielfilm gelingt es Nicolai Albrecht durch seine verschiedenen Charaktere, ein treffendes Stimmungsbild deutscher Befindlichkeit zu zeichnen. Ob Männlein oder Weiblein, ob jung oder schon älter, jeder ist unterwegs, auf der Suche nach einer Station, an der Halt zu machen sich lohnt. Die Beziehungen, die viele von ihnen haben verbergen hinter der äußeren Distanz oft nur mühsam eine innere Entfremdung.

    Der Ort des Geschehens, die Autobahn, ist anspielungsreich gewählt. Die deutsche Autobahn ist einerseits ein beeindruckendes Bauwerk, mit 12.000 Kilometer eines der größten der Welt und noch dazu die Verheißung der Freiheit ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Wie jeder Freiraum steckt aber auch hier die Gefahr, sich zu verlieren, zu verirren und letztlich ziellos vorwärts zu drängen. Was an Verbindlichkeit entsteht, gründet sich zunächst lediglich auf Geschäftliches und Zweckrationalismus. Selten wird der Versuch unternommen, daraus mehr entstehen zu lassen, und wenn, dann möglichst ohne eigene Sicherheiten aufgeben zu müssen.

    Der technische und organisatorische Aufwand der Dreharbeiten, die zu 80 Prozent im Original auf Autobahnen abliefen, hat sich gelohnt. Die Chemie zwischen den Darstellern transportiert sich sehr direkt, die zuweilen gezwungene Nähe in den Autos wird spürbar. Angenehm fällt auf, dass hier ein wirkliches Ensemble am Werk ist, keiner der Darsteller versucht sich zu profilieren. Auf das Casting hat Albrecht viel Zeit und Mühe verwendet, schließlich mussten die Figuren in verschiedenen Konstellationen ganz unterschiedliche Emotionen glaubwürdig rüberbringen. Dass er nicht der Versuchung erlag, für seinen Film die inzwischen etablierten Jungdarsteller mit Zugkraft an der Kinokasse zu verpflichten, ist für die Story ein großer Gewinn. Gerade weil sie so unprätentiös und nicht mit Rollenklischées behaftet daherkommen, fühlt man sich den Figuren bereits nach wenigen Minuten respektive Kilometern so vertraut.

    Bei der Bildsprache ist diese Bescheidenheit allerdings weniger ein Pluspunkt. Die Dialoglastigkeit der „Mitfahrer“ gibt Bildern, die für sich sprechen, kaum Raum. Gerade bei einem Road Movie und dem hier betriebenen Produktionsaufwand ist das sehr schade, liegen doch Weite und Enge hier quasi auf dem Präsentierteller und warten nur darauf, ihre Dynamik in das Geschehen einbringen zu dürfen. Einmal mehr wird deutlich, dass Kino und Fernsehen eben doch sehr verschiedene Medien sind, die ihre Geschichten prinzipiell auf andere Weise erzählen. Ein Auftragsfilm von WDR/arte muss dann eben doch fernsehkompatibel sein, und das heißt in den meisten Fällen, dass der Handlungsverlauf auch dann verständlich bleiben muss, wenn man den Bildern keine eigene Bedeutung beimisst. Nicolai Albrecht hat also noch Entwicklungspotenzial und man darf gespannt sein, ob er nach diesem Abschlussfilm an der dffb seine genaue Beobachtungsgabe von den Charakteren auch auf die Bilder ausdehnt.

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