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    Der Unbequeme
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der Unbequeme
    Von Christian Horn

    „Mit einem Sack Nüsse

    will ich begraben sein,

    und mit neuesten Zähnen.

    Wenn es dann kracht,

    wo ich liege,

    kann vermutet werden: er ist das,

    immer noch er."

    (Günter Grass)

    Zuletzt ist Günter Grass durch sein Waffen-SS-Geständnis im Rahmen seines biographischen Buches „Beim Häuten der Zwiebel" im Sommer vergangenen Jahres ins öffentliche Interesse gerückt. Die Debatte um seine Nazi-Vergangenheit, im Buch in einigen wenigen Absätzen erzählt, brachte den fast 80-jährigen Nobelpreisträger bis auf das Titelblatt des „Spiegel" und wurde in Fernsehdebatten und den großen Feuilletons ausgiebig diskutiert, wobei all die anderen Seiten des Künstlers schmählich verkürzt dargestellt worden. Diese Lücke füllt nun die Langzeitdokumentation „Der Unbequeme". Nadja Frenz und Sigrun Matthiesen haben den deutschen Dichter, Bildhauer und Grafiker über einen Zeitraum von zwei Jahren mit der Kamera begleitet und so ein Porträt geschaffen, das weit über den mittelschweren Medienskandal hinaus geht und sich dem Menschen Günter Grass behutsam nähert.

    Die beiden Filmemacherinnen begleiten Grass auf viele Reisen, etwa nach Danzig, Warschau, Hamburg, Lübeck, Berlin oder gar bis in den Jemen. Sie zeigen den Schriftsteller bei Treffen mit berühmten Kollegen, wie zum Beispiel Siegfried Lenz („Die Deutschstunde"), bei Lesungen und SPD-Wahlkämpfen, beim Gespräch mit den Übersetzern von Die Blechtrommel und lassen viele Wegbegleiter zu Wort kommen, darunter auch seine Frau und eine seiner Töchter. Dabei erweist Grass sich als intelligenter, offener und sehr reflektierter Mensch, bei dem das Zuhören und -sehen Spaß macht. Grass, meistens mit einer Pfeife im Mundwinkel, hat sichtlich gelebt und sprüht vor Charisma und gediegener Altersweisheit. Immer wieder gelingen Frenz und Matthiesen besonders eindrückliche Momente, beispielsweise wenn sie Grass in seinem Bildhauer-Atelier bei der Arbeit zeigen oder beim Gespräch mit zwei taiwanesischen Frauen, die den Dichter - völlig begeistert von einer Lesung mit seiner Tochter in Paris - prompt nach Taiwan einladen. In Grass' Reaktionen in solchen Gesprächen, treten seine Gutherzigkeit und sein wacher Geist unübersehbar zu Tage.

    Natürlich ist auch Grass' Biographie „Beim Häuten der Zwiebel" ein Thema des Films, das skandalöse Buch bildet gar den roten Faden des Dokumentarfilms. Zur Zeit des Drehs war Grass nämlich mit dem Schreiben des Buches beschäftigt; „Der Unbequeme" porträtiert das Endstadium dieses Prozesses, zeigt Grass bei Meetings mit seinem Verleger und dem Entwerfen des Umschlagbildes. Nach eigenem Bekunden hatte Grass lange Zeit nach einer passenden Form gesucht, seine Vergangenheit bei der Waffen-SS öffentlich zu machen - und diese Form hat er mit seiner Biographie gefunden. Das große mediale Echo hatte Grass weder geplant noch erwartet, auch das wird in „Der Unbequeme" deutlich. Ein weiterer interessanter Aspekt ist Grass' politische Gesinnung. Schon seit langem unterstützt er die SPD, reiste mit Willy Brandt und wird in „Der Unbequeme" bei einem Treffen mit Gerhard Schröder in Berlin gezeigt. Die politische Einstellung des Dichters ist ebenso schlicht wie geistvoll: Die SPD unterstützte er immer während der Wahlkampfphase, um sie in der dazwischen liegenden Zeit zu kritisieren. Die SPD sei für ihn eine harmlose Partei, deren „soziale Frage" immer aktuell sein werde und die daher kein „Endziel" postuliere, keinen utopischen Zustand herbeisehne, sondern handfest in der jeweiligen Gegenwart verwurzelt ist.

    Der besondere Clou an „Der Unbequeme" ist, dass die Geschichte von Günter Grass nicht anhand von Archivmaterial erzählt wird, sondern - wie von selbst - an den jeweiligen Orten seiner Biographie. In seinem Geburtsort Danzig etwa berichtet er von seiner frühen Kindheit und in Paris von seiner Pariser Zeit. Dieser Ansatz ist schlicht und wird den Anforderungen an das Abbilden der Wirklichkeit im Rahmen eines Dokumentarfilms überaus gerecht. Allerdings hätte man sich einen sparsameren Einsatz der musikalischen Begleitung gewünscht. Denn so hätte dem Film ein noch direkterer Zugang zu Günter Grass gelingen können, vergleichbar mit dem Dokumentarfilm „Lagerfeld Confidentiel“, der auf der diesjährigen Berlinale zu sehen war. Aber trotz dieser gestalterischen Verzerrungen ist „Der Unbequeme" ein gelungener Dokumentarfilm geworden. In den knappen 90 Minuten hat der Zuschauer die Möglichkeit, einen der großen deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit, Zugpferd der Gruppe 47 und Nobelpreisträger, kennen zu lernen und selbst zu beurteilen. Am Ende vermisst man ihn regelrecht, wenn er vor dem Abspann seine Pfeife anzündet, charmant in die Kamera lächelt und feststellt: „So, nun is genug für heute, ja?"

    Und die reißerische Frage der „Spiegel“-Redaktion, ob Günter Grass uns verraten habe oder nicht, kann dann auch jeder selbst beantworten.

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