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    Zeiten des Aufruhrs
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Zeiten des Aufruhrs
    Von Jan Hamm

    Für wenige Augenblicke ist Jack Dawson (Leonardo DiCaprio) der König der Welt. Fest umschlungen mit der Liebe seines Lebens (Kate Winslet) gleitet er nahezu schwerelos über den rauschenden Wogen des Atlantiks dahin, einem ins Abendrot getauchten Horizont entgegen. Nur wenige Augenblicke – dann zerbricht der fragile Traum an den scharfen Kanten eines vorbeitreibenden Eisberges. Was folgt, ist Kinogeschichte. 1997 schickte James Cameron die vor rund einem Jahrhundert gesunkene Titanic erneut auf Schicksalsfahrt, schuf damit den kassenstärksten Eventfilm aller Zeiten und stellte mit elf gewonnen Academy Awards den Oscar-Rekord von Ben Hur ein. Ein wenig verwundert es da schon, dass mehr als zehn Jahre lang niemand auf die Idee kam, DiCaprio und Winselt wieder zu vereinen. Denn die nahezu perfekte Chemie zwischen den beiden Darstellern war für den sensationellen Erfolg maßgeblich mit verantwortlich. Mit dem ruhig inszenierten Drama „Zeiten des Aufruhrs“ holt Sam Mendes (American Beauty, Road To Perdition), Winslets Ehemann, dieses Versäumnis endlich nach.

    Im Connecticut der 50er Jahre lebt Frank Wheeler (Leonardo DiCaprio, Blood Diamond, The Departed) mit Gattin April (Kate Winslet, Little Children, Wenn Träume fliegen lernen) und zwei kleinen Kindern ein beschauliches Leben. Seinen Bürojob kann der junge Mann zwar nicht ausstehen, lukrativ genug für ein hübsches Familienhaus in der „Revolutionary Road“ ist er aber allemal. Nach einem misslungenen Versuch, in der Theaterbranche Fuß zu fassen, fügt sich auch April ihrem vermeintlichen Schicksal und ergibt sich dem Alltagstrott ihrer Hausfrauenrolle. Das war nicht immer so. Einst hielten sich die Wheelers für etwas Besonderes, für weltgewandt, ambitioniert und vor allem nicht so abgrundtief gewöhnlich wie ihre Nachbarn (Kathryn Hahn, Die Stiefbrüder, David Harbour, Awake). Als sie beschämt einsehen müssen, dass sie längst im verhassten Kleinbürgertum angekommen sind und ihr Selbstbild zur Karikatur verblasst, beschließen Frank und April einen Neuanfang in Europa. Das Wunschziel Paris wird zum Rettungsanker der darbenden Ehe. Doch als Frank eine Beförderung angeboten bekommt und April erneut schwanger wird, erweist sich die Sicherheit ihres bisherigen Lebens als verlockende Falle...

    Was, wenn der Eisberg nicht dazwischen gekommen wäre? Lebten Jack und seine Rose dann glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage? Weit gefehlt, denn tückische Riffs lauern selbst im gediegensten Vorortalltag zur Genüge. Auf der Basis von Robert Yates Roman „Revolutionary Road“, einem Klassiker der amerikanischen Literatur, erforscht Mendes beklemmende Szenen einer Ehe, die an ihrer eigenen Banalität zu ersticken droht. Der Film überzeugt mit komplexer Charakterpsychologie und erwartungsgemäß fantastischem Schauspiel, verlangt aber auch nach einem hohen Maß an Geduld. Vom amourösen Glamour oder den Schauwerten eines Titanic ist „Zeiten des Aufruhrs“ nämlich viele Seemeilen weit entfernt. Wie schon in American Beauty entwirft Mendes die amerikanische Suburbia als Ballungszentrum wuchernder Wut über unausgelebte Wünsche und Selbstbilder – dieses Mal allerdings völlig frei von der tragikomischen Leichtigkeit seines Erstlingswerkes. Wie auch Yates, der seinen Roman nie als bloße Abrechnung mit biederer Vorstadtmoral verstanden wissen wollte, vermeidet Mendes eine Reduktion auf sein Setting, und verleiht der Geschichte einen zeitgeistunabhängigen Charakter: Der Versuch der Selbstverwirklichung und die Konflikte, die damit einhergehen, sind universelle Themen.

    Ist es möglich, sich neu zu erfinden? Als größte Stärke von Mendes‘ Romanadaption erweist sich, wie mit dieser hochkomplexen Frage umgegangen wird. Allzu verlockend wäre es gewesen, etwaige Antworten in der kleinbürgerlichen Mentalität der amerikanischen 50er zu suchen. Stattdessen nutzt „Zeiten des Aufruhrs“ die Kulisse als den Pol in der Selbstverortung der Wheelers, der ihrem Wunschselbstbild diametral entgegengesetzt ist. Auf der einen Seite eine konservative Familienhierarchie und banaler Alltag, auf der anderen Seite progressive Geschlechterbilder und ein Leben am kulturellen Puls der Zeit. Doch es ist nicht der Provinztrott, der die junge Familie in die Apathie treibt. Vielmehr sind sie Gefangene ihrer eigenen Ängste und Projektionen. Frank und April berühren sich insbesondere immer dann, wenn sie ihre Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit teilen. „Du bist die interessanteste Person, die ich je getroffen habe“, haucht April ihrem Liebsten zu - in einer Rückblende, wohlbemerkt.

    Inzwischen weiß sie es besser. Kaum rekuriert sie auf diese Erinnerung und sukzessive ihren ersten Sex, gerät Frank unter Zugzwang, seine Männlichkeit mittels belanglosem Quickie in der Küche zu aktualisieren. Nicht das soziale Umfeld lähmt die Wheelers, es dient ihnen lediglich als Projektionsfläche ihrer eigenen Schwächen. „Du warst großartig, aber das Stück war schlecht“, kommentiert Frank den Misserfolg einer provinziellen Theateraufführung seiner Frau. Eigene Zweitklassigkeit wird mit Schulddelegation kompensiert, die Karriere wird auf Paris vertagt. Der Weg zur Selbstfindung besteht für Frank und April konsequenterweise nicht im physischen, sondern im psychischen Aufbruch. Mendes zeichnet diesen Prozess mit einer geschickt aufgebauten Charakterkonstellation als qualvolles Ringen um Wahrheit.

    Eine zentrale Rolle kommt dabei John Givings (Michael Shannon, Vanilla Sky), dem psychisch instabilen Sohn der Vermieterin (Kathy Bates, Misery), zu. Mrs. Givings glaubt, ihm durch Umgang mit den hochgeschätzten Wheelers seinen Rückweg in die Normalität zu erleichtern. Doch John denkt nicht daran, seine Ansichten sozialtauglich zu verpacken. Mendes nutzt die Figur als klassischen Hofnarren. Solange John ihr kleinbürgerliches Umfeld bloßstellt, wundern die Wheelers sich, was an seinem Verhalten gestört sein soll. Sobald er ihnen aber einen Spiegel vorhält, stimmt Frank explosiv in die Pathologisierung ein. Doch es ist zu spät, das kompensatorische Konstrukt bricht in sich zusammen.

    Dramatisch ist dieser Weg in den Schlussakt allemal, doch „Zeiten des Aufruhrs“ weidet sich nicht am Schmerz seiner Figuren. Die Ehe wird nicht dekonstruiert, um sie vorzuführen, sondern um ihre Zusammensetzung anhand der zersplitterten Fragmente besser zu verstehen. Leider geht trotz seines präzisen Blicks auf Geschlechterrollen völlig unter, wie die Wheelers als vierköpfige Familie funktionieren. Das liegt vor allem daran, dass die beiden Kinder kaum eine Rolle spielen, obgleich sie stets als Vorwand für ein sesshaftes Leben herhalten. Das Elterndasein wird zwar anhand der Schwangerschaft abgehandelt, bleibt als Teil des Alltags aber größtenteils unsichtbar. Dabei hat Kate Winslet mit Little Children unter Beweis gestellt, wie differenziert sie Mutterrollen interpretieren kann. „Zeiten des Aufruhrs“ könnte prinzipiell auch von einem kinderlosen Paar erzählen.

    Oder auch im Hier und Jetzt spielen. Die politischen und gesellschaftlichen Prozesse der Nachkriegszeit bleiben unbeachtet, die Verwurzelung der Geschichte in den 50ern erschöpft sich im Ästhetischen, etwa der charmanten Retro-Mode oder zeitgemäßen Musikstücken. So fehlt dann leider der Feinschliff bei der Herleitung der sezierten Alltagssituation. Ein Mangel, der in Anbetracht der sonstigen Intensität des Films allerdings kaum Gewicht erlangt. Ging es bei Titanic noch um ein möglichst fotogenes Traumpaar, haben DiCaprio und Winslet hier deutlich bessere Voraussetzungen, ihr darstellerisches Können zu entfalten. Wunderbar aufeinander eingespielt machen die beiden die Stasis und insbesondere die Ausbruchsversuche ihrer Figuren spürbar. Besonders erwähnenswert ist auch Michael Shannon, der seine übergroßen Leinwandpartner in den wenigen gemeinsamen Szenen vor sich hertreibt.

    Fazit: Mit „Zeiten des Aufruhrs“ setzt Sam Mendes seine mit American Beauty begonnene Beobachtung des amerikanischen Vorstadt-Bürgertums fort. Mit ruhiger Hand inszeniert er den präzise beobachteten und stark gespielten Niedergang eines Ehepaares ohne falsche Sentimentalität. Wer allerdings von der Rückkehr des Titanic-Traumpaares spektakuläres Eventkino erwartet, wird hier bitter enttäuscht.

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