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    Die Brücke am Kwai
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Die Brücke am Kwai
    Von Hans Riegel

    Natürlich weise Erhabenheit kreist am Himmel droben, betrachtet aus der Distanz luftiger Höhe, allem Irdisch-Verfänglichen entrückt, nur der Natur verpflichtet, das sich am Boden windende Paradies des Dschungels unter dem ruhig wogenden Wipfeldach: säkularisierte Göttlichkeit, waberndes Spiel der Existenzen; ein Vogel kreist, ein Adler vielleicht, besieht die Welt unter sich, die Welt zahlloser Lebewesen, strahlender, saftiggrüner Bäume und Sträucher, des auftreffenden Sonnenlichts und der schönsten Naturlaute, die Welt brauner, ausgetrockneter Flussbetten, brütender Hitze, dunkler, verdreckter Ströme, die Welt der am Erdboden kriechenden Menschen.

    1908. Im Krönungsjahr des letzten chinesischen Kaisers, dem Jahr der folgenreichen Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn, wird im Londoner Stadtteil Croydon am 25. März David Lean in eine Quäker-Familie und schwierige Zeiten hineingeboren. Obgleich dem Kinde der Gang ins Kino verboten ist und er zunächst, seinem Vater nachfolgend, als Buchhalter seinen späteren Lebensunterhalt zu verdienen glaubt, wird Lean 1927 bei einem Filmstudio eingestellt: Er ist der Junge, der die Klappe schlägt. Die großen Ereignisse seiner Jugend- und frühen Erwachsenenjahre, die sowohl den Ersten als auch den Zweiten Weltkrieg einschließen, fungieren später als historische Grundierung für seine feinen und doch monumentalen Charakterstudien.

    Vom Konflikt lebt das Spiel. Von der Antike ins dramatische Bewusstsein geboren, verendet dies Axiom selbst dort nicht, wo prätentiöse Theaterregisseure mit salbungsvollen Floskeln die bisweilen aberwitzigen Tiefen und welken Grundfesten ihrer aktuellsten Klassikernovellierungen zu verkleiden suchen; selbst dort nicht, wo aus einem Übergewicht kreativer Unbedarftheit die allerletzten Popfilm-Regisseure vor Einmütigkeit jeden Plot auf die simpelsten, auf die zu Schemen verkommenen, verschlissenen Ideen zurückgreifen. Angegriffen wird also es zusehends.

    Liebe, Essenz menschlicher Bindung, Himmelstürmer über Hindernisse und Berge, mitunter als Sinn des Lebens verstanden, bildet seit jeher den Kern der meisten Dramen, bietet gleichsam unerschöpfliches Konfliktpotenzial. Daneben fällt vielen Autoren nichts ein. 1997 verband ein Film den Klassiker, die Liebe, mit der gleichermaßen massentauglichen Historie, dem Schiffsunglück schlechthin: Titanic. James Camerons 11-Oscar-Spektakel ist das Meisterkraut der hollywoodschen Paradesaat an Zuschauermagneten. Den Liebesdürstenden offeriert es eine verzweifelte Leidenschaft über gesellschaftlich-soziale Schranken hinweg, den Geschichtsanhängern dampft, dröhnt und bricht das riesenhafte Legendenschiff in gewaltigen Bildern vor Augen. Alle sind bestäubt, alle sind bedient: Der erfolgreichste Film aller Zeiten ist das Resultat an den Kinokassen. Über den Dächern der großen Hollywood-Studios schweben, seitdem vielleicht bedrohlicher denn je, Menetekelnebel, in denen diese Titanic und zahllose formvirtuose Ableger schwimmen; gegenwärtig sind die Nebel blutrot gefärbt und aus den Wolken, die sie einstmals waren, sind formlose Fetzen, diesige Nebel geworden, dennoch düster, dennoch das Gemüt drückend. Es ängstigt einen, was sie heute zeugen und stärker, was sie einst zeugen mögen.

    1955. Aus dem mit stereotypen Figuren, großen und kleinen Konflikten und faszinierenden Bildern gefüllten Samentopf der Romanvorlage filtern die Autoren Michael Wilson und Carl Foreman alles Wesentliche, alle jene Elemente, die sich fruchtschwanger und Ertrag versprechend in einen modernen Spielfilm einbringen lassen. Erträge, obgleich diese Produzent Sam Spiegel natürlich kümmerten, sollen hier nicht einzig gute Einspielergebnisse sein, vielmehr soll eine cineastische Pflanze erstehen, die abseits von gängigem Konfliktstoff nachhaltig auf seinen Zuschauer wirkt, sich seiner paradigmatischen Aufgabe bewusst ist und schließlich, doch gewiss nicht in Hebammenfunktion, eine Art Männerfilm darstellt; nicht, dass Frauen kein Gefallen am Gewächs hätten, es ist schlicht dem männlichen Gusto eher zugeneigt.

    David Leans „Die Brücke am Kwai“, nach der Vorlage des Franzosen Pierre Boulle, verzichtet nicht nur auf den Konflikt aus Liebe, selbst dem Liebespotenzial, das die hie und da auftretenden Frauen mitbringen, verschließt sich der Film: Das Weibliche als Material schert Lean hier lediglich aus Gründen der Atmosphäre, des Stils - und weil es wegzulassen dem Produzenten nicht denkbar erscheint. Wie auch in Lawrence von Arabien (1962) etabliert sich der äußere Konflikt zunächst ausschließlich zwischen Männern (in Kriegsgebieten verständlich), gleichwohl doch zieht es den Zuschauer allmählich ins Innere, dorthin, wo ein Auseinandersetzen stattfindet, die äußeren Standpunkte zum Widerstreit führen und zur psychischen Zerrissenheit der Protagonisten anwachsen.

    1943. Eines Tages, von einer Überlandstrecke der Eisenbahnlinie in Thailand aus, marschiert ein Bataillon britischer Soldaten unter der Führung von Colonel Nicholson (Alec Guinness) im Gefangenenlager Camp 16 ein. Indes der Lagerkommandant Col. Saito (Sessue Hayakawa) sich umzieht, vom Kimono in die Uniform schlüpft und damit quasi auch seine Rolle wechselt, positionieren sich Nicholsons Soldaten unter lautem, ironisch-trotzendem Pfeifen (der bekannte Colonel Bogey March bzw. River-Kwai-Marsch) wie Schachfiguren hinter ihrem Befehlshaber und vor der Hütte Saitos. Als der hinaus- und vor Nicholson tritt, dämmert dem amerikanischen Soldat im nebenan gelegenen Krankenlager, welche Gegensätze hier aufeinander prallen. Zwei Könige stehen sich gegenüber, hinter dem einen die Machtgewalt des zumal bewaffneten Kriegsgewinners, hinter dem anderen ein Bataillon disziplinierter Ergebener. Saito, nach feudaler Bushido-Philosophie lebend, ist ein Militär alter Schule. Nicholson ist Brite.

    Commander Shears (William Holden), dort schon lange gefangener amerikanischer Offizier (und eigentlich nur einfacher Matrose), beobachtet, wie Nicholson und die Bauernschaft ins Lager einziehen. Er ist zum Zyniker geworden. Mitgefangene, allmähliche Bekannte sind an Beri-Beri und Malaria verreckt, andere werden ihnen bald nachfolgen. Um sich der ausmergelnden Knechtschaft im Lager zu entziehen, hat er sich einen Platz im Krankenlager ertauscht. Im Gespräch mit den neu angekommenen Engländern gibt er sich offen: Wer nicht zu fliehen versucht, kann sein Testament schon machen. Natürlich ist der pflichtbesessene Nicholson anderer Meinung: „Ohne Gesetz gäbe es keine Zivilisation“, und er ist samt Bataillon auf Befehl dort. Eine Flucht kommt nicht in Frage. Die Konsequenzen sind absehbar.

    Die britischen Soldaten sollen dort, am Schienenstrand des Todes (Death Railway), innerhalb einer streng einzuhaltenden Frist (12. Mai 1943) eine Brücke über den Fluss Kwai bauen. Zwischen 1942 und ’43 tatsächlich von britischen, amerikanischen, australischen und niederländischen Kriegsgefangenen errichtet, hat es die reale Bahnstrecke, die über die Brücke verläuft, nach Fertigstellung auf circa 415 Kilometer Länge gebracht. Die Genfer Konvention von 1929, auf deren Einhaltung Nicholson insistiert, besagt unter anderem, dass kriegsgefangene Offiziere nicht zu „niederen Arbeiten“ herangezogen werden dürfen. Nicholson verweigert daher mitsamt seinem Offiziersstab den Dienst an der Brücke, auf dem Saito, nicht zuletzt, da Japan der Konvention seinerzeit nicht zugestimmt hat, aber besteht. Die Feuerblume des Konflikts zwischen Saito und Nicholson legt ihre steinerne Knospe langsam frei: Nicholson wird von Saito in Einzelhaft gesteckt, seine Offiziere ebenfalls weggesperrt, während die übrigen britischen Soldaten unter Leitung eines japanischen Architekten den Bau der Brücke teils bewerkstelligen, teils sabotieren. Auf diese Weise jedoch, so muss der Lagerkommandant erkennen, wird er seinen Termin nicht einhalten können. Zur gleichen Zeit welkt Nicholson in seinem Blechverlies vor sich hin; von brütender Hitze und Schmeißfliegengesumm ausgezehrt, ist er noch immer um das Prinzip bemüht, die Konvention müsse eingehalten werden. Unterdessen ist Shears geflohen, hat selbst leidlich überlebt, während sein Mitflüchtling ums Leben gekommen ist. „Wahnsinn, dieser Fluchtversuch“, kommentiert dies Nicholson, als Arzt Clipton (James Donald) ihn in seinem Verschlag notdürftig untersucht.

    Nach einem Pyrrhussieg über Saito, der unter den Sabotageakten der britischen Soldaten beim Brückenbau nun doch in Zeitdruck gerät, fasst Nicholson, nun in seiner Machtposition und verhängnisvollen Hybris bestärkt, den Entschluss, den Japanern die ganze Überlegenheit der britischen Armee, Krone und Zivilisation unabwendbar und anhaltend vor Augen zu führen. Die britischen Offiziere treffen sich in der Lagerkommandantur mit den Japanern zur Beratung. Nicholson unterbreitet Saito das Angebot, die Brücke, von britischen Architekten (aus dem Bataillon) entworfen, unter der Leitung seiner eignen Offiziere nach Plänen, die sie nun ausgearbeitet werden mögen, erbauen zu lassen. Saito steht unter enormem Zeitdruck, und so geht es nach Nicholson: Kriegsgefangene Briten bauen für den japanischen Feind - mitten im Zweiten Weltkrieg - eine strategisch wichtige Brücke über den Fluss Kwai. Diese Brücke ist, was der Film nicht offen lässt, ein Stachel im Auge jedes britischen Militärs.

    Erzählungen leben von ihren Figuren: „Der Schimmelreiter“ funktionierte nicht ohne den Ehrgeiz dieses ungewöhnlichen Hauke Heyen. „Der Fänger im Roggen“ interessierte nicht, wäre Holden Caulfield ein ganz normaler Junge. Die Bedeutung eines Romans, seine Anmut, seine Qualität letztlich, bemisst sich im Wesentlichen an der Ausarbeitung seiner Figuren. Beim Film ist da kein Unterschied: Die Figur des T.E. Lawrence verleiblicht buchstäblich diese so tiefe, entflammende Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg, sie ist, obgleich auch wahre Person, ein faszinierender und deshalb funktionierender Charakter; Juri Schiwago ist für uns gleichsam Spiegelbild einer gesamten sowjetischen Epoche; nicht umsonst erhielt Pasternak den Nobelpreis. Große Ereignisse, hineinkristallisiert in Einzelne: Freiheitsdrang, Faszination fürs Fremde, kultureller Umbruch, neue Maßstäbe, aber immer auch ein persönliches Moment, und immer ist der Krieg mit eingewoben. Das ist eine Stärke des Leanschen Films.

    Der typische Brite, pflichtbewusst, vielleicht -besessen, stur, ehrgeizig, sich rassisch überlegen fühlend; der typische Japaner, ehrbezogen, obrigkeitsfürchtig, traditionsbewusst - im Falle Saitos danach lebend und denkend: Stereotypen, Klischeebilder auf den ersten Blick. Aber mächtig, Ehrfurcht gebietend, wenn Nicholson Saitos Schlag empfängt, sich im Recht fühlend gar die andere Wangen auch noch hinzuhalten bereit ist. Eindrucksvoll, wenn Saito mit der Gewalt des Wortes Gottes zu befehlen beginnt und am Rande des Schauplatzes das Getuschel beginnt, wie er die Briten wohl unterjochen werde. Doch David Lean ist nicht interessiert an sparsamen Zeichnungen, die den Massen unbedingt zu belieben haben und daher wenig Farbe, wenig Form, wenig Abgrenzung bemühen. Was hier erzählt wird, ist kein Groschenroman.

    Indem er Probleme, Konflikte im Großen sucht und sie jeweils, auf Glaubwürdigkeit stets bedacht, auf den Einzelnen herunterbricht, das Individuum in den sinnbildenden Kontext setzt, werden Zeitgeschehen, Standpunkt und Kommentar gleichsam Kolorit und spiegelnde Essenz der Seelenlandschaften seiner Figuren. Nicholson ist nicht einfach Brite, er ist Britannien, wie Saito Japan ist (und Hitler leider Deutschland). Nahezu blindlings rennt Nicholson gegen die Wände japanischen Denkens, Handelns, und versteht Saito seinerseits nicht einmal, wieso Nicholsons Wille noch ungebrochen ist, denn für ihn stirbt ein geschlagener Krieger oder er nimmt sich selbst das Leben, nicht jedoch begibt er sich in Gefangenschaft. Saito steht der Tod des Helden näher als das Leben des Mulis, wohingegen Nicholson sich dem militärischen Kodex tief verpflichtet fühlt und darüber, wie eindrucksvoll das Missverständnis auf der in Abendrot liegenden Brücke demonstriert, sein Leben als natürliches Geschöpf völlig aus dem Blick verloren hat.

    Aber gestraft sei, wer Lean ob seines epischen Films einen einfachen Geschichtenerzähler nennen wollte; zu immens sein Gestaltungswille, zu singulär die Kraft seiner Bilder. Obschon die regulären Dreharbeiten nahezu ein ganzes Jahr in Anspruch genommen haben, verbringt Lean mit Kameramann Jack Hildyard noch mehrere Wochen im Urwald von Ceylon. Sie konservieren Großteile der Dschungellandschaft, die so poetisch und lieblich eingefangen sich ins Gedächtnis einbrennt, nehmen per Zufall die von Steven Spielberg (Indiana Jones und der Tempel des Todes, 1984) zitierte Fledermausschar auf, die den Himmel verdunkelt und die Lebendigkeit des Elements Dschungel fassbar macht. Der Adler, der zum Symbol wird, der ahnen lässt, welches Genie hinter den Leanschen Bildern steckt, gehört zu den Aufnahmen, die nach den regulären Dreharbeiten gemacht werden. Es ist dies wahre Kinomagie: rhythmisch im Sand stampfende Soldatenstiefel, halb zerfallen, dazu das Pfeifen; kompositorische Finesse, wenn sich ebendiese Schachanordnung auftut oder T.E. Lawrence, in der bekannten Brunnenszene, von Sherif Ali umkreist, sich nicht von der Stelle rührt, erhaben alles von seinem Standpunkt aus und durch diese Sichtweise zu erneuern vermag. Wahrhaft lebendig wirken Leans Bilder, imposant, im höchsten Maße faszinierend, vergleicht man sie mit vielem Gewächshausallerlei heutiger Tage. Seine Filme bedürfen keiner Rechtfertigung durch populäre Topoi und waren - wem danken wir? - doch Kassenschlager.

    Oft ist Lean vorgeworfen worden, „Die Brücke am Kwai“ glorifiziere militärischen Gehorsam, selbstredend den britischen, und breche mit dieser scheinbaren Glorie auch nicht. Wer aber sieht, was am Ende allen Schaffens und Wollens steht, worin die Tragödie des amerikanischen Commanders Shears besteht, der zur Zerstörung der Brücke in den Urwald zurück gezwungen wird, wer die Fäden der beiden Handlungsstränge zusammenführt, von denen der zweite Shears folgt, der wird erkennen, dass mit Nicholson und Saito, mit Warden (Jack Hawkins) und Shears alles in Zerstörung endet: gelebte, verlustblinde Überheblichkeit, der Auftrag des einen, die Freundschaft, die Freiheit des anderen. Am Ende und als Resultat des Krieges steht unmenschlicher Aufwand vor umwälzender Zerstörung und der Gewissheit, dass alles vergebens gewesen ist. Diese Aussage stammt übrigens nicht aus dem Roman, denn dort wird die Brücke nicht gesprengt. Die Botschaft, einer Glorifizierung ferner denn je, ertönt eindringlich. Im Krieg gibt es keinen Gewinner, sondern nur Verlierer: und das britische Bataillon pfeift weiter zum nächsten Camp am Schienenstrang des Todes. Der Termin zur Brückenfertigstellung am 12. Mai war vom französischen Romanautor vielleicht nicht ganz zufällig gewählt: Am 12. Mai 1814 entließ Ludwig XVIII. von Frankreich die 300.000 Mann starke napoleonische Armee wieder nach Hause. Nicholson und seinen Soldaten blüht ein anderes Schicksal.

    Wieder kreist der Adler, allem Irdisch-Verfänglichen entrückt, über einem Universum von Leben, vergiftetem und geläutertem. Besäße doch der Mensch etwas mehr natürlicher Entrücktheit.

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