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    Leningrad - Der Mann, der singt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Leningrad - Der Mann, der singt
    Von Sascha Westphal

    Es heißt, dass nahezu alle Russen Mat sprechen. Aber das wird ungern offen zugegeben. Denn diese Vulgärsprache, die von Flüchen und Obszönitäten durchsetzt ist und nur so vor wüsten Sexismen und selbstherrlichen Prahlereien strotzt, ist offiziell in Russland verboten. Doch das erhöht ihren Reiz natürlich nur, besonders für überzeugte Non-Konformisten wie den Musiker, Dichter und Konzeptkünstler Sergej „Shnur" Shnurov. Dessen folkloristisch angehauchte Ska-Punk-Band „Leningrad" ist mit ihren Mat-Liedern innerhalb kürzester Zeit von einer typischen Underground-Formation zu einem wahren Pop-Phänomen mutiert und konnte schließlich auch jenseits der russischen Grenzen einige beachtliche Erfolge feiern. Einer von denen, die auf die Band aufmerksam wurden, ist der deutsche Filmemacher Peter Rippl. Seine faszinierende, irgendwo zwischen Konzertfilm und Reportage angesiedelte Dokumentation „Leningrad – Der Mann, der singt" entstand in der Endphase von Shnurs Projekt - noch während der Dreharbeiten verkündete der Künstler die Auflösung der Band.

    Ein Konzert der gesamten 14-köpfigen Band im Londoner „Lock 17" und eine eigens für den Film inszenierte Unplugged-Session, an der neben Shnur nur noch sein Akkordeonspieler teilgenommen hat, stellt Peter Rippl ins Zentrum seiner Annäherung an Leningrad. Das sind die zwei Seiten dieser Band, die spätestens mit dem Auftrittsverbot durch den Moskauer Bürgermeister Luschkov zum Inbegriff russischer Gegenkultur geworden war. Der rauen, an den frühen Punk der späten 70er Jahre erinnernden Energie des Live-Auftritts steht der fast schon introspektive Ton des Studio-Gigs gegenüber. Dass Shnurs Songs in beiden Varianten einen hypnotischen Sog entwickeln, unterstreicht all das, was Musiker, Manager und Fans über dessen Musik sagen: In ihr scheint sich tatsächlich das Leben im heutigen Russland wie in einem Prisma zu bündeln. Dabei geht es weder dem Musiker, der seine Live-Auftritte selbst einmal als Performance-Kunst mit Musikbegleitung beschreibt, noch dem Filmemacher um die so oft beschworene ‚russische Seele', sondern um ein ganz alltägliches Lebensgefühl und seine Sprache.

    An Distanz zu dem charismatischen Musiker, der sich nun auch als bildender Künstler versucht, ist Peter Rippl nicht gelegen. Er geht vielmehr ganz nah an Shnur heran und riskiert dabei sogar, von ihm benutzt zu werden. „Leningrad – Der Mann, der singt" wird damit zum Teil des großen Gesamtkunstwerks, an dem Sergej Shnurov seit Jahren arbeitet. Vielleicht ist es tatsächlich einfach unmöglich, sich diesem Mann und seiner Ausstrahlung zu entziehen. Diese Vermutung legen zumindest all die anderen Interviews nahe, die Rippl geführt hat. Außer einem Manager aus der Musikbranche sprechen alle eigentlich nur in den höchsten Tönen von Shnur. Sie alle, die Fans genauso wie die Musiker und die Wegbegleiter des Multitalents, arbeiten mit am Mythos Leningrad und Shnur.

    Durch diesen grundsätzlichen Verzicht auf einen gewissen Abstand, der es dem Musiker zumindest erschweren würde, den Film ganz für sich zu instrumentalisieren, macht sich Peter Rippl zweifellos angreifbar. Doch letztlich ist eine solche Form der Distanzierung gar nicht notwendig gewesen. Zum einen sind die gesamten Interview-Passagen sowieso eher Beiwerk. Dem Filmemacher geht es schließlich vor allem darum, einen Eindruck von den Auftritten und der Musik der Band zu vermitteln. Zum anderen kann jeder seine eigenen Schlüsse aus Sergej Shnurovs Auftreten ziehen. Zudem kommt Rippl derart nah an ihn heran, dass jeder Betrachter auch ohne weiteres Zutun des Filmemachers das Egomanische in Shnurs Verhalten erkennen dürfte. Shnurov ist einer dieser Künstler und Popstars, die es perfekt verstehen, nach den Gesetzen des Marktes zu spielen, und die – wenn es sein muss – diesen Markt auch erst einmal selbst schaffen. Das Ende der Band, über das er alleine entschieden hat, ist dafür nur ein weiterer Beleg.

    In einer Hinsicht musste Peter Rippl allerdings scheitern. Das war gar nicht anders möglich. Mat lässt sich nicht übersetzen. Jeder Versuch kann nur einen äußerst vagen Eindruck von dieser Alltagssprache vermitteln. Insofern bleibt von dem Zündstoff, den Shnurovs Texte unzweifelhaft haben, in den deutschen Untertiteln nur sehr wenig übrig.

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