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    Lovelace
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Lovelace
    Von Björn Becher

    Trotz nur einer einzigen Hauptrolle in einem Hardcore-Porno-Film war die 2002 verstorbene Linda Lovelace (bürgerlich: Linda Boreman) lange Zeit der weltweit bekannteste Star der Sexfilmindustrie – schließlich hatte sie diesen Auftritt 1972 in „Deep Throat", dem Kultfilm und größten Kassenhit der Pornofilm-Geschichte. Die wechselhafte Lebensgeschichte von Lovelace, die später zur Pornogegnerin wurde und behauptete, zur Arbeit an „Deep Throat" gezwungen worden zu sein, ist nun der Gegenstand von gleich zwei Filmbiografien. Bereits seit 2008 befindet sich „Inferno: A Linda Lovelace Story" mit Malin Akerman („Watchmen") in der Planung. Nach mehreren Darstellerwechseln und einigen Skandalen um die zwischenzeitlich involvierte Lindsay Lohan („Girls Club") ist dieser Film allerdings immer noch nicht fertig und wurde vom Konkurrenzprojekt „Lovelace" überrundet. Die beiden früheren Dokumentarfilmer Rob Epstein und Jeffrey Friedman, die mit ihrem Spielfilmdebüt „Howl – Das Geheul" über den Beat-Poeten Allan Ginsberg bereits ein eigenwillig-experimentelles Biopic vorgelegt haben, finden auch dieses Mal trotz insgesamt deutlich konventionellerer Erzählweise einen sinnfälligen Ansatz: Sie teilen ihr biografisches Drama und erzählen getrennt von den Licht- und den Schattenseiten von Lindas Werdegang im Pornogeschäft. Sie legen dabei durchaus Widersprüchliche offen, doch eine befriedigende Antwort auf die zu Beginn offen gestellte Frage nach der „wahren Linda Lovelace" finden sie nicht.

    1970: Obwohl Linda Boreman (Amanda Seyfried) bereits 21 ist, steht sie unter der strengen Aufsicht ihrer Eltern Dorothy (Sharon Stone) und John (Robert Patrick). Die junge Frau ist eher prüde als wagemutig, obwohl ihre quirlige Freundin Patsy (Juno Temple) sie immer wieder zu Albernheiten antreibt. Von ihr lässt sich Linda auch überreden, bei einem Konzert in einer Bowlinghalle als Go-Go-Tänzerin aufzutreten. Dabei fällt sie dem Barbesitzer Chuck Traynor (Peter Sarsgaard) auf, der ihr in der Folgezeit charmant den Hof macht. Linda verliebt sich, zieht kurz darauf zu Hause aus und heiratet Chuck, der ihr beibringt, die Schönheit ihres Körpers zu schätzen und Lust am Sex zu empfinden. Als Chuck finanzielle Probleme hat, dient er Lindas besondere Fähigkeiten beim Oralsex der Porno-Industrie an. Der daraufhin produzierte Film „Deep Throat" wird nicht nur zum Hit, sondern zum Phänomen. Linda (nun bekannt unter ihrem Künstlernamen Linda Lovelace) ist Gast auf schicken Partys, trifft Stars wie Hugh Hefner (James Franco) und Sammy Davis Jr. (Ron Pritchard). Doch das ist alles nur die halbe Wahrheit wie Linda sechs Jahre später, angeschlossen an einen Lügendetektor, zu Protokoll gibt...

    Der Zeitsprung zu Lindas Aussage am Lügendetektor erweist sich als radikaler Einschnitt. Von da an erzählt das Regieduo einen Großteil der bereits vorher gesehenen Handlung ein zweites Mal, nun aus veränderter Perspektive. Das ist ein cleverer Kniff, der dem Film buchstäblich eine zusätzliche Dimension gibt. Mit der erneuten Rekapitulation der Ereignisse im Rückblick der Protagonistin wird die erste Filmhälfte dabei nicht etwa negiert, sondern ergänzt: Der zweifache Oscar-Preisträger Rob Epstein („The Times of Harvey Milk", „The Celluloid Closet") und sein Partner Jeffrey Friedman reichern die bereits gezeigten Ereignisse mit zusätzlichen Informationen an, durch die sie in einem anderen Licht erscheinen. So ist beim ersten Durchgang nur zu sehen, wie Chuck seine Braut Linda nach der Vermählung über die Schwelle des gemeinsamen Hauses trägt, aber in der „Wiederholung" zeigen uns die Filmemacher wie er sie in der anschließenden Hochzeitsnacht vergewaltigt. Wirken die Tränen, die Linda in ihrer „Deep Throat"-Rolle verdrücken muss, beim ersten Durchgang noch wie Schauspielerei, scheinen sie beim erneuten Rückgriff auf die Szene echt zu sein.

    Die Regisseure schlagen sich mit ihrer Erzählstrategie klar auf die Seite von Linda Lovelace, die nach ihrem Ausstieg aus dem Porno-Geschäft zu einer der entschiedensten Gegnerinnen der Sexfilm-Industrie wurde. Wenn die Filmemacher in der zweiten Hälfte die Perspektive ihrer Protagonistin einnehmen, machen sie sich allerdings auch Lovelaces Behauptung zu eigen, dass „Deep Throat" ihr einziger Pornofilm gewesen sei und sie damit letztlich nur einige Tage im hinterher von ihr denunzierten Geschäft tätig war. Tatsächlich hat die reale Lovelace immer wieder auf dieser Aussage beharrt, die wurde allerdings längst widerlegt und es kam heraus, dass die spätberufene Aktivistin bereits ein Jahr vor „Deep Throat" in mindestens einem Porno-Kurzfilm mitgewirkt hat. Die erfahrenen Dokumentaristen Epstein und Friedman mögen hier recht ungezwungen mit den historischen Fakten umgehen, aber genau das ist der Punkt: Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Dies unterstreichen sie mit dem Wechsel der Erzählperspektive deutlich, aber unaufdringlich. In der zweiten Filmhälfte führt dies allerdings auch dazu, dass sie vor allem das Bild wiedergeben, das Lovelace in Talkshows und Büchern von sich selbst gezeichnet hat. Wer diese widersprüchliche Frau wirklich war, lässt sich auf diese Weise kaum ergründen.

    Mit viel Liebe zum Detail lassen die Regisseure und ihr erstklassiger Kameramann Eric Alan Edwards („Beim ersten Mal", „Kids") den Look und damit auch das Lebensgefühl der 70er auferstehen. Der Blickwinkel mag dabei in der zweiten Filmhälfte sehr einseitig sein, die Erzählung ist dafür dramaturgisch sehr sinnvoll verdichtet. Geschickt werden die Beziehungen zwischen den Figuren immer wieder im richtigen Moment in den Fokus genommen. Das gilt in erster Linie für das komplizierte Verhältnis zwischen Linda und ihrer Mutter. Das einstige Sexsymbol Sharon Stone („Basic Instinct") ist dabei als biedere Vorstadthausfrau kaum wiederzuerkennen, sie hat nur wenige Szenen, die ihr aber vollkommen genügen, um das Innenleben ihrer Figur mit kurzen Blicken und kleinen Gesten nach außen zu kehren. Da kann Hauptdarstellerin Amanda Seyfried („Les Misérables", „Mamma Mia!") noch so viele höchst unterschiedliche Looks haben und unerschrocken nackte Haut darbieten - gegen ihre fulminante Filmmutter kommt sie nicht an. Eines haben die beiden allerdings gemeinsam: Sie treten genauso wie die übrigen Mitglieder der prominenten Besetzung vollständig hinter ihre Figuren zurück. Die einzige große Ausnahme ist James Franco („Planet der Affen: Prevolution", „Spring Breakers") als Hugh Hefner. Der vielbeschäftigte Tausendsassa, der ursprünglich Chuck Traynor spielen sollte, dann aber nur Zeit für einen Kurzauftritt fand, legt den Playboy-Gründer unpassend nah an der Satire an und gibt dem Affen ordentlich Zucker.

    Das starke Ensemble und die klug aufgebaute zweite Filmhälfte können indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Filmemacher sich gerade zu Beginn zuweilen im Ton vergreifen. So wähnt man sich in den ersten 20 Minuten fast in einer banalen Witz-Parade, so stark liegt der Akzent auf platten Gags über Oralsex und die Entwicklung der besonderen Fähigkeiten der Titelheldin auf diesem Gebiet. Im Eröffnungsdialog erzählt die recht prüde Linda ihrer Freundin noch, wie wenig sie sich aus der Fellatio macht. Als ihr neuer Freund Chuck sie überredet, es trotzdem mal zu versuchen, erstickt sie fast. „Zum Glück" kennt sich der mit der nötigen Technik deutlich besser aus und erklärt ihr mehrere Tricks, mit deren Hilfe sie sein Glied immer weiter „schlucken" kann. Gemeinsam wird dies so perfektioniert, dass die Porno-Produzenten vor Staunen vom Stuhl fallen, als sie sehen, was Linda mit ihrem Mund (und dem Rachen) anstellen kann – der Filmtitel „Deep Throat" wird zum Programm. Diese ganze Episode hat mehr von einer schlüpfrigen Teenie-Klamotte als von einem satirischen Seventies-Revival, das hier womöglich ins Auge gefasst wurde

    Fazit: Mit ihrer ungewöhnlichen „Doppelerzählung" wählen Rob Epstein und Jeffrey Friedman einen gelungenen Ansatz für ihren Film über die Porno-Darstellerin Linda Lovelace, der jedoch trotz größtenteils sehr guter Darsteller nicht voll aufgeht. Dazu ist die erste Filmhälfte zu uneinheitlich und die Widersprüche in der Biografie der Titelheldin bleiben unterbelichtet.

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