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    Wenn der Wind weht
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Wenn der Wind weht
    Von Stefan Geisler

    1980 brachte die britische Regierung eine Serie von Broschüren und Informationsfilmen in Umlauf, die der Bevölkerung helfen sollten, im Fall eines atomaren Angriffs zu überleben. Diese Notfallmaßnahmen namens „Protect and Survive" umfassten Arznei- und Lebensmittel-Einkaufslisten und Instruktionen zum Erkennen der verschiedenen Sirenensignale, dazu kamen Anweisungen zum Bau eines hauseigenen „Fallout-Raumes" mit integrierter Schutznische. Diese sollte aus ganz alltäglichen Gegenständen wie Türen, Tischen und Kissen gebaut werden können und im Fall des atomaren Erstschlags Leben retten. Ganz abgesehen von der Unsinnigkeit der meisten vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen schürten die Prospekte die Angst vor einem Atomkrieg und brachten somit genau das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war. Aufgrund dieser nachhaltigen Wirkung werden diese Heftchen bis heute in der britischen Popkultur oft zitiert, so auch im 1982 erschienenen Comic „When the Wind Blows" („Strahlende Zeiten") von Raymond Briggs, einer bitterbösen Satire auf die britische Gesellschaft während des Kalten Kriegs. 1986 entstand nach dieser Vorlage der Animationsfilm „Wenn der Wind weht" - Regisseur Jimmy T. Murakami schuf nicht nur eine kongeniale Verfilmung des Comics, sondern seinerseits eine der nachhaltigsten künstlerischen Auseinandersetzungen mit den Schrecken und den Absurditäten des Atomzeitalters.

    England in der Zeit des Kalten Krieges: Das Ehepaar Bloggs, das die Blütezeit seines Lebens schon lange hinter sich hat, wird mit dem Schrecken des atomaren Zeitalters konfrontiert. Dabei war noch vor kurzem alles wie gewohnt: Während Jim Bloggs sein Rentnerdasein in vollen Zügen genoss und sich über die aktuellen politischen Ereignisse auf dem Laufenden hielt, kümmerte sich Hilda um den Haushalt. Ein friedlicher Lebensabend hätte ihnen ins Haus gestanden, doch wie immer kommt alles ganz anders. Als die Meldungen eines möglichen atomaren Krieges in den Zeitungen auftauchen, zögert Jim keine Minute und beginnt – ganz nach Vorschrift der Regierung – das Haus bestmöglich gegen die nukleare Bedrohung zu schützen, während Hilda versucht die häusliche Ordnung bestmöglich aufrechtzuerhalten. Doch der Einschlag der Bombe verändert alles...

    Mit dem Ehepaar Bloggs zeichnet Murakami das prototypische Porträt des regierungshörigen Bürgers, der in einer Mischung aus Naivität und Dummheit den Vorgaben der Obrigkeit folgt. Während Hilda die Gefahr einfach vollständig ignoriert und selbst im Moment des Bombeneinschlags ihre Aufmerksamkeit eher dem Kuchen im Backofen widmet als ihrem eigenen Leben, ist ihr Mann mit dem ausgestattet, was gemeinhin als „gefährliches Halbwissen" bezeichnet wird. Das eigentliche Ausmaß der Katastrophe begreift bis zum letzten Moment keiner der beiden. Das wird schnell ersichtlich, wenn Jim beginnt, die durchaus widersprüchlichen Regierungsanweisungen zur Selbsterhaltung auszuführen und einen Schutzraum aus an die Wand gelehnten Türen zimmert, sich zum Strahlenschutz in einen Kartoffelsack verkriecht - was einer symbolischen Beerdigung gleichkommt - oder die Fenster weiß streicht, um die Strahlung draußen zu halten. Jim bemerkt die Absurdität der Anweisungen nicht und vergewissert sich mit einer eigenen Erklärung jeweils von der Richtigkeit seines Tuns. Er ist überzeugt, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um sich und seine Frau vor der bevorstehenden Katastrophe zu schützen.

    Die Unwissenheit der Hauptfiguren wird erst nach dem Einschlag der Bombe vollständig deutlich. Ihr stetiges Hoffen auf eine Rückkehr der alten Normen wird auf die Spitze getrieben, wenn sie sich etwa ernsthaft über die Verspätungen des Zeitungsjungen wundern oder sich nach Ablauf der empfohlenen 48 Stunden Strahlenschutz voller Zuversicht in ihren zerstörten Garten setzen, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Ein dramatischer Höhepunkt ist dann der plötzlich einsetzende Regen, der nach dem Verbrauch der Wasservorräte für das Ehepaar vermeintlich einen wahren Segen darstellt, tatsächlich aber wegen der hochgradigen Verstrahlung des Niederschlags das endgültige Todesurteil bedeutet. Wie wenig die Protagonisten, die durch den Zweiten Weltkrieg geprägt wurden, die neue Art der Bedrohung wirklich begreifen, zeigt sich auch, wenn sie dem Feind immer wieder eine neue Nationalität unterstellen - das Denken in alten Fronten ist aber angesichts der Katastrophe obsolet. Jim und Hilda sind Relikte einer vergangenen Ära und werden als solche trotz aller satirischen Entlarvung durchaus mit Mitgefühl und Verständnis dargestellt. Murakami unterstreicht dies auch durch die liebevolle formale Gestaltung seines Films, er beschränkt sich auf eine Kombination einfach gestalteter Zeichnungen mit Knetmodellen, eine wahrhaft heile Welt, aus der im Laufe des Desasters allmählich Form und Farbe weichen.

    Wenn aus den wohlgenährten Kugelgesichtern langsam die blassbleichen, ausgemergelten Schreckgespenster des atomaren Zeitalters werden, dann weiß man, dass die Botschaft zeitlos und gerade heutzutage aktueller als jemals zuvor ist. Auch wenn Murakamis Animationsfilm eher eine bitterböse Satire auf den Kalten Krieg und die damit verbundenen zynisch-unbeholfenen Aufklärungsmaßnahmen der Regierung ist, wirken die dramatischen Elemente, besonders im letzten Drittel des Film, sehr eindringlich. Die Bloggs sind sympathische Jedermanns, denen man ihr unabänderliches Schicksal ersparen möchte. Ähnlich wie Isao Takahatas berührendes Anime-Drama „Die letzten Glühwürmchen" ist auch „Wenn der Wind weht" eine gelungene und zeitlose Warnung vor den schrecklichen Folgen eines atomaren Schlages.

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