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    Die Karte meiner Träume
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Karte meiner Träume
    Von Carsten Baumgardt

    Gegen T.S. Spivet wirkt selbst der ab 1989 von Neill Patrick Harris verkörperte TV-Wunderknabe Doogie Howser, der schon mit 14 als Krankenhausarzt anfing, wie ein durchschnittlich intelligenter Pennäler mit ein wenig Talent für Medizin. Man müsste schon in den Dimensionen eines Albert Einstein denken, um dem Genie gerecht zu werden, das im Zentrum von „Die Karte meiner Träume“ steht. Der französische „Die fabelhafte Welt der Amelie“-Regisseur Jean-Pierre Jeunet erzählt in seiner Verfilmung von Reif Larsens Bestseller die Geschichte eines erstaunlichen Zehnjährigen, der eine bahnbrechende Erfindung macht, aber aufgrund seines Alters zunächst nicht ernstgenommen wird, als märchenhafte Ode an die Macht kindlicher Fantasie - gefilmt in einem zur Abwechslung tatsächlich mal betörenden 3D. Ein echter Jeunet eben!

    Der junge T.S. Spivet (Kyle Catlett) lebt mit seiner verpeilt-freigeistigen Wissenschaftler-Mutter Dr. Clair (Helena Bonham Carter), seinem mürrischen Farmer-Vater Tecumseh Elijah (Callum Keith Rennie) und seiner pubertierenden größeren Schwester Gracie (Niamh Wilson) abgeschieden auf einer Ranch im ländlichen Montana. Eigentlich ist T.S. ein ganz normales Kind, aber eben auch nur fast: Denn der Zehnjährige ist wissenschaftlich hochbegabt! Für seine Erfindung eines neuartigen Perpetuum mobile gewinnt T.S. sogar den renommierten Baird-Preis des legendären Smithsonian Instituts in Washington. Dessen Leiterin G.H. Jibsen (Judy Davis) will den Preisträger unbedingt für eine Gala als Gast und Redner gewinnen – ohne zu wissen, dass T.S. in Wahrheit noch nicht einmal ein Teenager ist. Aber der Nachwuchswissenschaftler fühlt sich geehrt und macht sich ohne Kenntnis seiner besorgten Familie per Frachtzug auf den Weg Richtung Washington…

    Das Besondere an Reif Larsens 2009 erschienenem Buchdebüt „Die Karte meiner Träume“ sind die liebevoll gestalteten Illustrationen und Diagramme. Die detailgenauen Abbildungen stammen nämlich vom jungen Protagonisten selbst und diese zeichnerische Ich-Perspektive ermöglicht es dem Leser, noch leichter in die Gedankenwelt des kleinen Genies einzutauchen. Die wiederum steckt so voller versponnener Einfälle und staunenswerter Kleinigkeiten, dass es kaum einen besseren Regisseur für die Verfilmung geben kann als den Kino-Phantasten Jean-Pierre Jeunet („Die Stadt der verlorenen Kinder“, „Delicatessen“). Und der Franzose verzichtet bei seinem nach der eher unglücklichen Erfahrung mit „Alien – Die Wiedergeburt“ erst zweiten englischsprachigen Film dann auch auf jede falsche Zurückhaltung, eignet sich die wie für ihn gemachte Vorlage an und erschafft einmal mehr ein durch und durch eigenwilliges Leinwanduniversum, in dem alles möglich scheint.

    In träumerisch schönen 3D-Bildern voll der sattesten Farben entwirft Jeunet ein perfektes amerikanisches Idyll als Hintergrund für seine melancholisch-märchenhafte Erzählung, die in drei etwa gleich lange Teile gegliedert ist. Nach der Einführung der Figuren auf der Ranch in Montana folgt erst T.S. Spivets abenteuerliche Reise nach Washington und schließlich das Finale in der Hauptstadt der USA. Der Handlungsverlauf ist klar wie bei einer Fabel und gerade in der Verbindung der magischen Elemente mit ernsten Themen (etwa wenn es um die schwierige Auseinandersetzung der Familie mit dem Tod von T.S.‘ Bruder Layton geht), erinnert „Die Karte meiner Träume“ durchaus zuweilen an Ang Lees „Life Of Pi“. Dazu passt dann auch, dass die in der Gegenwart angesiedelte Geschichte durch den sonnendurchfluteten Retro-Look des Films (irgendwo zwischen Puppenhaus-Niedlichkeit, Edward-Hopper-Nostalgie und 50er-Jahre-Spätwestern) etwas entschieden Zeitloses bekommt.

    Der Held des Geschehens ist ganz klar der wunderliche Junge T.S. Spivet und spätestens im Mittelteil, wenn das frühreife Genie auf sich allein gestellt ist und immer wieder in die Bredouille gerät, spielt sich Kyle Catlett („The Following“) in seinem ersten Kino-Auftritt in die Herzen des Publikums. Der Jungdarsteller hat eine frische und sympathische Ausstrahlung und man nimmt ihm auch den verkannten Junior-Wissenschaftler jederzeit ab. Helena Bonham Carter („Fight Club“, „Alice im Wunderland“) und Callum Keith Rennie („Memento“) bilden dazu ein ungewöhnliches, auf den ersten Blick kaum harmonierendes Elternpaar, das aber in wichtigen Momenten auf berührende Weise stumme Übereinstimmung findet. Sie bewegen sich zuweilen hart am Rande der Überzeichnung, aber verleihen den Klischees von der überkandidelten Forscherin und vom trinkenden Knurr-Vater zugleich etwas wahrhaftig Menschliches. Nur Judy Davis („To Rome With Love“) schießt als comichaft-überdrehte Smithsonian-Grande über das Ziel hinaus, aber das bleibt in einem ansonsten wirklich schönen Film nur eine Randnotiz.

    Fazit: Jean-Pierre Jeunet erzählt in seinem 3D-Familienfilm „Die Karte meiner Träume“ in fantastischen 3D-Bildern und mit viel schrägem Charme ein wundervoll-schwärmerisches Abenteuer-Drama mit magischem Touch.

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