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    Nächster Halt: Fruitvale Station
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Nächster Halt: Fruitvale Station
    Von Carsten Baumgardt

    Zum US-Kinostart im Juli 2013 hat Ryan Cooglers beklemmendes Drama „Nächster Halt: Fruitvale Station“ durch aktuelle Ereignisse ungeahnte zusätzliche Aufmerksamkeit erhalten: Die amerikanische Öffentlichkeit ist in Aufruhr, weil ein Geschworenengericht in Florida den „weißen Hispanic“ George Zimmerman freisprach, nachdem er auf Nachbarschaftswache den unbewaffneten schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin im Februar 2012 in angeblicher Notwehr erschoss. Das skandalträchtige Urteil löste eine landesweite Rassismusdebatte in den USA aus, an der sich auch Präsident Barack Obama beteiligte. Cooglers „Nächster Halt: Fruitvale Station“ liegt ein ähnlicher realer Fall zugrunde und die traurigen Parallelen geben seinem Film über die Erschießung des 22-jährigen Oscar Grant durch einen Polizisten in den frühen Morgenstunden des 1. Januar 2009 im kalifornischen Oakland zusätzliche Prägnanz. Im Fall Grant ist die Faktenlage durch zahlreiche Zeugen und Videoaufnahmen wesentlicher eindeutiger als im Fall Martin und diese Quellen nimmt Regisseur Coogler als Ausgangsmaterial für eine fiktionalisierte Chronik des letzten Tages im Leben des jungen Afroamerikaners – das bittere Schicksal seines Protagonisten verdichtet er zu einem tief bewegenden und aufwühlenden, allerdings auch unübersehbar parteiischen Film.

    Hayward, Oakland Bay Area,  31. Dezember 2008: Seitdem er vor kurzem aus dem Knast entlassen wurde, versucht der Metzger Oscar Grant (Michael B. Jordan) wieder Fuß zu fassen im Alltag. Zwei Haftstrafen wegen kleinerer Drogendelikte und Waffengebrauch hat er bereits abgesessen - er ist immer noch auf Bewährung, als die letzten 24 Stunden seines Lebens anbrechen. Grant hat sich vorgenommen, ein besserer Mensch zu werden und will an diesem Silvestertag damit beginnen: Er möchte seiner Freundin Sophina (Melonie Diaz) ein besserer Partner sein, er möchte seiner dauerbesorgten Mutter Wanda (Octavia Spencer) ein besserer Sohn sein und vor allem möchte er seiner vierjährigen Tochter Tatiana (Ariana Neal) ein besserer Vater sein. Doch die guten Vorsätze auch in die Tat umzusetzen, ist nicht so leicht. Sein alter Job als Schlachter in einem Supermarkt wurde längst an jemand anderen vergeben und eine zweite Chance erhält Oscar nicht. Die Silvesternacht verbringt er mit Freunden im nahen San Francisco. Auf dem Rückweg kommt es in einem überfüllten Vorortzug an der Fruitvale Station in Oakland zu einem folgenschweren Handgemenge, in das auch Grant verwickelt wird und in das schließlich auch die Bahn-Polizei eingreift.

    Brutale Polizeigewalt und Rassismus sind in den USA zwei ganz besonders heiße gesellschaftliche Eisen; wenn diese leicht entzündlichen Themen zusammentreffen, ist eine Explosion beinahe zwangsläufig und so kam es auch nach dem skandalösen Tod von Oscar Grant Anfang 2009 in Oakland zu großen Demonstrationen und Ausschreitungen wütender Protestler. Wütend war auch der damalige Filmstudent Ryan Coogler, den die Ereignisse so betroffen gemacht haben, dass er beschloss, einen Film über Grant und sein Schicksal zu drehen. Zwar hat es einige Jahre gedauert, bis der junge Regisseur seinen Plan verwirklichen konnte, aber es ist ihm mit seinem beeindruckend kraftvollen Erstlingsfilm gelungen, die Emotionen und die Energie jener Tage lebendig werden zu lassen. Die letzte halbe Stunde von „Nächster Halt: Fruitvale Station“, in der Coogler den Vorfall im Bahnhof minutiös schildert, gehört zum Packendsten, was das amerikanische Independentkino in den vergangenen  Jahren zu bieten hatte.

    Coogler integriert in sein erschütterndes Finale eine genaue Nachstellung der tatsächlich existierenden Handy-Video-Aufnahmen von Grants Tötung (hier kann man die Originalfilme sehen), wodurch er eine fiebrig-brodelnde und explosive Atmosphäre etabliert. Geschickt fängt er mit vielen Handkameraeinstellungen die Unübersichtlichkeit und Konfusion der eskalierenden Situation ein: Die Polizisten der Bay Area Rapid Transit (BART) picken ein Dutzend Fahrgäste, das in eine Rangelei verwickelt war, aus der Menge heraus, doch die völlig überforderten Beamten werden nie Herren der chaotischen Lage. Grant weigert sich offenbar, seine Hände für das Zuschnappen der Handschellen auszustrecken. Er wird er von zwei Polizisten auf den Boden gedrückt, bevor einer der beiden Beamten ihm in den Rücken schießt. Der Grund für den Schuss bleibt unklar – aber seine Folgen sind tödlich. Der reale Polizist Johannes Mehserle behauptete vor Gericht, in der Hektik den Taser zur Betäubung und die Handfeuerwaffe verwechselt zu haben, was eine mögliche Erklärung für die auch im Film zu sehende panische Diskussion der BART-Beamten nach dem tödlichen Schuss wäre. Mehserle wurde nach einem Jury-Urteil zu zwei Jahren Haft verurteilt und somit nur milde bestraft.

    Vor den elektrisierenden finalen 30 Minuten im rauen Dokustil zeichnet Regisseur Coogler das mitfühlende Porträt eines früh Gestrauchelten, der versucht, auf die richtige Seite der Straße zurückzukehren. Cooglers Grant will sich ändern, wieder Arbeit finden und schlicht ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden, wodurch die fatale Schlusswendung noch einmal zusätzliche Tragik erhält. Allerdings wirkt das ständige Bemühen des Regisseurs, Grant als guten Menschen erscheinen zu lassen, der mit allen seinen Kräften nach Absolution strebt, gelegentlich ein bisschen einseitig und aufgesetzt – zumal sich die gesamte Filmhandlung nur über einen einzigen Tag erstreckt. Diese etwas manipulative dramaturgische Zuspitzung wäre gar nicht nötig gewesen, denn die Wucht der tragischen Ereignisse spricht für sich, aber Cooglers Film ist eben auch ein politisches und ein parteiisches Werk.

    Der Regisseur setzt auf große Emotionen, auf die Empörung und die Wut der Zuschauer. Es ist daher vor allem dem superben Michael B. Jordan („Chronicle“, „The Wire“) zu verdanken, dass der Film nicht in die Gefilde der plumpen Propaganda abdriftet. Er macht aus dem Leinwand-Grant mehr als eine blütenweiß gewaschene Symbolfigur, in seiner Darstellung schwingen auch die dunklen Seiten der Figur mit. Durch die hervorragenden Nebendarstellerinnen Melonie Diaz („Abgedreht“) und Octavia Spencer („The Help“) bekommt der Film stellenweise noch zusätzliche Tiefe und thematische Komplexität, so dass „Nächster Halt: Fruitvale Station“ am Ende ein zwar etwas einseitig erzähltes, aber tief berührendes Drama ist, das lange nachhallt.  

    Fazit: Ryan Coogler legt mit seinem auf wahren Begebenheiten beruhenden „Nächster Halt: Fruitvale Station“ ein intimes, vor emotionaler Kraft strotzendes Drama vor, das vor allem im herausragenden Schlussakt aufwühlt und berührt.

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