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    Die Augen des Engels
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Die Augen des Engels
    Von Carsten Baumgardt

    Es ist einer der spektakulärsten, verzwicktesten und medienwirksamsten Mordfälle überhaupt: Am 1. November 2007 wird die 21-jährige Britin Meredith Kercher in ihrer Wohnung im italienischen Perugia brutal ermordet. Der Verdacht der Staatsanwaltschaft vor Ort fällt alsbald auf Kerchers Mitbewohnerin, die US-amerikanische Austauschstudentin Amanda Knox, und deren damaligen Freund Raffaele Sollecito. Die beiden werden verurteilt, dann freigesprochen, wieder verurteilt und schließlich in höchster Instanz am 27. März 2015 erneut und endgültig freigesprochen. Die Angeklagten entgehen damit einer mindestens 25-jährigen Gefängnisstrafe und so bleibt der wegen Beihilfe rechtskräftig zu 16 Jahren Haft verurteilte Ivorer Rudy Guede vorerst der Einzige, der für das womöglich nie vollständig aufzuklärende Verbrechen belangt wird. Als der Brite Michael Winterbottom („Ein mutiger Weg“) das kriminalistische Rätsel in seinem Film „Die Augen des Engels“ aufgriff, galten Knox und Sollecito der italienischen Justiz noch als die Haupttäter, aber da sich der Indie-Regisseur ohnehin wenig an den Details des Falls interessiert zeigt, haben die neuesten Entwicklungen keine große Rückwirkung auf sein Werk. Statt einen Versuch zu unternehmen, das Chaos um den „Engel mit den Eisaugen“ (so Knox‘ Beiname in der Boulevardpresse) zu lichten, lässt Winterbottom den aufsehenerregenden Prozess nämlich weitgehend links liegen und liefert stattdessen eine zwar elegante und zuweilen faszinierende, aber vor allem sperrige Film-im-Film-Reflektion.

    Seit mehreren Jahren hat der renommierte deutsche Arthouse-Regisseur Thomas Lang (Daniel Brühl) keinen Film mehr gedreht. Für sein neues Projekt ist der geschiedene Familienvater jedoch Feuer und Flamme: Er soll in Siena den Mordfall der amerikanischen Studentin Elizabeth Pryce (Sai Bennett) aufarbeiten. Bei den Ermittlungen in Italien sind schnell die Mitbewohnerin der Getöteten, Jessica Fuller (Genevieve Gaunt), und ihr Freund Carlo Elias (Ranieri Menicori) ins Visier der Polizei geraten und stehen seitdem weltweit in den Schlagzeilen. Lang beginnt seine eigene Recherche, indem er Kontakt mit der Journalistin Simone Ford (Kate Beckinsale) aufnimmt, die das Geschehen schon seit Jahren vor Ort beobachtet und ein Buch darüber geschrieben hat. Je mehr Lang allerdings über den Mord und die vermeintlichen Täter erfährt, desto schwerer fällt es ihm, eine Vision für seinen Film zu entwickeln. Er gerät in eine tiefe Sinnkrise, bekommt Wahnvorstellungen und trinkt mehr als gesund ist. Schließlich beginnt er eine Affäre mit der Autorin Ford, während er bei der ortskundigen Austauschstudentin Melanie (Cara Delevingne) seelischen Halt sucht.

    Eines vorweg: „Die Augen des Engels“ ist kein Whodunit-Thriller! Die Frage nach der Schuld oder der Unschuld von Amanda Knox bleibt nicht nur unbeantwortet, sondern wird gar nicht erst so richtig gestellt. Es wirkt fast so, als wäre es Michael Winterbottom ganz ähnlich gegangen wie seinem Protagonisten, der seinerseits keine klare Perspektive findet und nicht weiß, welchem Ansatz er in seiner Aufarbeitung des Geschehens folgen soll. Der Regisseur macht aus dieser Not schließlich sein Thema und weicht auf die Meta-Ebene, in die (Selbst-)Reflektion aus. Der Komplex „Amanda Knox/Meredith Kercher“ ist für Winterbottom entsprechend nur noch gedankliches Sprungbrett und Projektionsfläche: So huschen die Schlüsselfiguren des Prozesses (mit pro forma geänderten Namen und einem von Perugia nach Siena verlegten Spielort) nur als Statisten über die Leinwand und mit dem fiktiven Regisseur wird der vermeintliche Chronist zum Protagonisten. Für das Publikum bedeutet das zunächst einmal, dass alle Hoffnungen auf ein kriminalistisches Tatsachendrama radikal enttäuscht werden. Der doch so reizvolle und vielschichtige Stoff aus den Nachrichten- und Klatschspalten bleibt in dieser Hinsicht zu großen Teilen ungenutzt, denn Winterbottom bietet etwas völlig anderes, was jedoch zumindest im Ansatz ähnlich reizvoll ist.

    Die Grundlage für Winterbottoms Arbeit lieferte nach dessen Aussage das bereits 2010 erschienene Buch „Angel Face“ von Barbie Latza Nadeau, an dem ihn besonders der Umstand interessierte, dass die Autorin die Beobachterperspektive verlässt und selbst als handelnde Person auftritt (sie ist das Vorbild für die im Film von Kate Beckinsale verkörperte Figur). Es geht Winterbottom dabei letztlich um den künstlerischen Schaffensprozess im weitesten Sinne, zumal sich an den harten Tatsachen schon vorher die Macher von mehreren Fernsehfilmen und Dokumentationen abgearbeitet hätten. Der Brite nimmt sich die Freiheit, Fakten und Fiktion zu einem Fiebertraum zwischen objektiver Wahrheit und subjektiver Wahrnehmung zu mischen. Thomas Lang rutscht mehr und mehr in den Wahn ab, die stilvoll-düsteren Bilder von Siena erinnern dazu immer stärker an einen Gothic-Horrorfilm: Wenn er sein Drehbuch schließlich nach dem Vorbild von Dantes „Göttlicher Komödie“ strukturieren will (wie es Winterbottom selbst mit seinen Kapiteln Hölle, Fegefeuer, Paradies tut – so weit geht es hier mit den Dopplungen und Spiegelungen), dann wird diese Idee kaum noch mit dem eigentlichen Mordfall in Verbindung gebracht. Das größere Problem ist aber, dass die aufblitzenden Ideen zu Themen wie Kunst, Medien, Schuld, Verantwortung und Verlust nur selten vertieft werden und so ist „Die Augen des Engels“ am Ende ein oft recht banales, aber atmosphärisch starkes (Selbst-)Porträt eines Kulturschaffenden in der (Mittlebens-)Krise.

    Die Eltern des Mordopfers haben ihre Tochter endgültig verloren, aber auch Thomas Lang leidet unter Verlustgefühlen, denn er kann mit seiner jungen Tochter Bea (Ava Acres) nach der Scheidung nur noch über Skype und weite Entfernungen verkehren. Auch wenn Winterbottom hier die Liebe in den Vordergrund stellt, hat es der deutsche Hauptdarsteller Daniel Brühl („Rush“, „Inside Wikileaks“) nicht leicht. Das Verhalten des abgewrackten und nicht gerade sympathischen Filmemachers Lang ist nämlich oft kaum nachvollziehbar. So bleibt seine leidenschaftslose Affäre mit der Journalistin Ford ein Rätsel, zumal zwischen den beiden Schauspielern keinerlei Verbindung spürbar ist. Innere Spannung bekommt „Die Augen des Engels“ dagegen immer dann, wenn Brühl mit Cara Delevingne („Margos Spuren“, „Anna Karenina“) als junge Studentin Melanie zusammentrifft. Auch der Handlungsstrang um den mysteriösen Blogger Edoardo (Valerio Mastandrea) ist im Gegensatz zur gelegentlichen plumpen Kritik an der Sensationspresse nicht reizlos, auch weil plötzlich die Lösung des Mordfalls wieder ins Spiel kommt. Schließlich serviert Winterbottom gleichsam im Vorbeigehen sogar eine neue Tätertheorie, die er allerdings nicht konsequent zu Ende verfolgt. Es entsteht ein regelrechtes Wirrwarr von Erzählfäden und Motiven, das der Regisseur nicht schlüssig in den Griff bekommt.

    Fazit: Michael Winterbottom vergaloppiert sich auf seinem wilden Ritt zwischen Wahn und Wirklichkeit – sein Drama „Die Augen des Engels“ gefällt in erster Linie  atmosphärisch und mit einigen reizvollen reflexiven Ansätzen.

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