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    Tatort: Kollaps
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tatort: Kollaps
    Von Lars-Christian Daniels

    Eines ist beim „Tatort“ so sicher wie das Amen in der Kirche: Am Ende des Krimis wird der Mörder gefasst und weggesperrt – oder er stirbt. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel: 1995 verhalfen die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) in Dominik Grafs Meisterwerk „Tatort: Frau Bu lacht“ einer geständigen Täterin zur Flucht, und im Januar 2016 darf es der entflohene Mörder Kai Korthals (Lars Eidinger) im „Tatort: Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes“ erneut mit den Kieler Kollegen Klaus Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibel Kekilli) aufnehmen. Auch die vielen Kleinkriminellen, die Nebenfiguren, die Erst-Verdächtigen-und-dann-Unschuldigen sieht man im „Tatort“ in der Regel nur einmal – dienen sie doch meist nur dazu, den Zuschauer bei der Tätersuche vorübergehend auf eine falsche Fährte zu locken. In Dror Zahavis „Tatort: Kollaps“ ist das anders: Drehbuchautor Jürgen Werner, der fünf der bisherigen sechs Dortmunder Krimis konzipiert hat, verhilft Drogenboss Tarim Abakay aus dem „Tatort: Mein Revier“ zum Comeback. Wer Abakays ersten Auftritt im Jahr 2012 verpasst hat, muss sich aber nicht ärgern: „Kollaps“ funktioniert auch ohne Vorwissen und ist ein weiterer überzeugender Krimi aus einer der momentan interessantesten „Tatort“-Städte.

    Auf einem Spielplatz in der Dortmunder Nordstadt kommt es zur Tragödie: Die sechsjährige Emma (Sophie Schwierske) buddelt im Sand und entdeckt ein kleines Päckchen mit bunten Kügelchen. Was das ahnungslose Mädchen für Bonbons hält, ist in Wahrheit Kokain – und landet in ihrem Magen. Zu spät bemerkt ihre Mutter Claudia Siebert (Alexandra Finder), dass ihr Kind bewusstlos im Sand liegt: Die Rettungsversuche der Sanitäter Oliver Lahnstein (Axel Schreiber) und Kai Lubitz (Stefan Haschke) kommen zu spät. Das Dortmunder Ermittler-Quartett Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt), Nora Dalay (Aylin Tezel) und Daniel Kossik (Stefan Konarske) findet heraus, dass der Spielplatz von senegalesischen Drogendealern als Umschlagplatz genutzt wurde. Doch Jamal Gomis (Warsama Guled) und seine Schwester Niara (Victoire Laly) sind seit dem Unfall untergetaucht. Während sich Emmas Vater Roland Siebert (Sönke Möhring, Bruder von „Tatort“-Kommissar Wotan Wilke Möhring) gemeinsam mit Dieter Lahnstein (Werner Wölbern), dem Vater des Sanitäters, auf die Suche nach den Dealern macht, bittet Faber Drogenboss Tarim Abakay (Adrian Can) um Hilfe. Wenig später findet man Niaras Leiche...

    Der doppelte Tatort-Nazi“ titelte ein Kölner Boulevardblatt jüngst reißerisch, und so ganz Unrecht hat die Zeitung damit nicht: Schon wieder stellt sich beim 958. „Tatort“ nämlich die Frage, was sich die Programmkoordinatoren der ARD bei der Terminierung des Krimis gedacht haben. Schauspieler Werner Wölbern („Im Labyrinth des Schweigens“), der diesmal den besten Freund des trauernden Vaters spielt, war erst eine Woche vor der TV-Premiere von „Tatort: Kollaps“ in einer Schlüsselrolle im „Tatort: Verbrannt“ zu sehen. Den Stammzuschauern dürfte er als ausländerfeindlicher Leiter einer Polizeiwache in Salzgitter sofort wieder präsent sein, zumal seine Figur diesmal ganz ähnlich gestrickt ist: Der Modelleisenbahnfreund macht keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber Migranten und Flüchtlingen. „Das ist ein gesellschaftlicher Tsunami, der da auf uns zurollt“, bilanziert Lahnstein bei einer Befragung verbittert – und spielt damit auf die sozialen Probleme in der Nordstadt an, wo die Polizei der Kriminalität von Tag zu Tag machtloser gegenüber steht. Schon bald stecken die Ermittler mittendrin im Schlamassel – und die Stadt Dortmund wird dank der Kulissen aus Beton und graffitiverschmierten Wänden einmal mehr von ihrer tristesten Seite eingefangen.

    Stamm-Autor Jürgen Werner durchsetzt den Ruhrpott-Krimi wie schon den „Tatort: Hydra“, der im rechten Milieu spielte, oder den „Tatort: Eine andere Welt“, in dem Faber und Co. eine Teenager-Leiche aus dem Phoenix-See zogen, mit Lokalkolorit und greift dabei ein gesellschaftliches Reizthema auf. Stellung bezieht er allerdings nicht: Politische Patentlösungen für die Flüchtlingsproblematik oder Rezepte gegen die steigende Kriminalitätsrate sucht man ebenso vergebens wie Moralpredigten der Kommissare, wie sie zum Beispiel im Kölner „Tatort“ häufig zu beobachten sind. Fabers Kollegen haben auch genug mit sich selbst zu tun: Der Krimititel „Kollaps“ spielt nicht nur auf den grausamen Tod der kleinen Emma, sondern vor allem auf das Seelenleben ihrer geschockten Eltern und das Privatleben von Hauptkommissarin Bönisch an. Während deren Mann das alleinige Sorgerecht für die Kinder erwirkt hat und die ungewohnt aggressive Ermittlerin damit zur Verzweiflung bringt, stellt Kossik seiner Kollegin und Ex-Freundin Dalay nach, die sich einen gut situierten Anwalt geangelt hat. Die Filmemacher ziehen das Markenzeichen der Dortmunder Krimis – die horizontale folgenübergreifende Erzählweise und der Fokus auf das Privatleben der vier Hauptfiguren – auch diesmal konsequent durch.

    Schauspielerin Anna Schudt („Ein offener Käfig“) gibt dies Gelegenheit, ihr schauspielerisches Können in die Waagschale zu werfen: Während sonst meist Jörg Hartmann („Weißensee“) als exzentrischer Borderline-Kommissar Faber für die Eskapaden zuständig ist, ist es diesmal seine schlecht gelaunte Kollegin Bönisch, die ihren Frust bei One-Night-Stands mit durchreisenden Männern im Hotel zu betäuben versucht. Eher handzahm fällt indes das Wiedersehen mit Adrian Cans („Stereo“) Tarim Abakay aus, mit dem die Dortmunder Ermittler erstmalig 2012 im „Tatort: Mein Revier“ Bekanntschaft machten: Der gewohnt bissige, diesmal aber nicht ganz so witzige Faber schneit regelmäßig im Unterschlupf des Drogenkönigs herein und legt sich dort mit dessen muskelbepackten Bodyguards an. Trotz der kleineren Schwächen überzeugt „Kollaps“ unter dem Strich aber als spannendes Krimidrama: Zwar dürfte die richtige Auflösung für „Tatort“-Kenner spätestens nach einem Feierabendbierchen von Kossik und einem Verdächtigen Routine sein, doch veredeln die Filmemacher den knackigen Showdown mit einer heftigen Schlusspointe, die nach dem Abspann ein beunruhigendes Gefühl hinterlässt. Heile Welt ist in Dortmund nicht drin – dafür steht der „Tatort: Kollaps“ exemplarisch.

    Fazit: Dror Zahavis „Tatort: Kollaps“ ist trotz kleinerer Schönheitsfehler ein spannendes und stark gespieltes Krimidrama, mit dem nahtlos an die überzeugenden vergangenen Folgen aus Dortmund angeknüpft wird.

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