Mein Konto
    Tatort: Ätzend
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Tatort: Ätzend
    Von Lars-Christian Daniels

    Wer am Sonntagabend nur gelegentlich den „Tatort“ einschaltet, hat inhaltlich in der Regel nicht viel verpasst: Sieht man einmal von den Krimis aus Dortmund ab, in denen das Privatleben von Hauptkommissar Peter Faber (Jörg Hartmann) und seinen Kollegen einen wesentlichen Teil der Rahmenhandlung ausmacht, so knüpfen die einzelnen Fälle der verschiedenen „Tatort“-Teams meist nur sehr lose aneinander an. Jede Ausgabe der öffentlich-rechtlichen Krimireihe – ganz gleich, in welcher Stadt sie spielt – beginnt gewissermaßen wieder bei null und funktioniert für sich allein. Im Berliner „Tatort“ geht der rbb nun einen neuen Weg: Filmemacher Dror Zahavi („Zivilcourage“) beleuchtet in seinem „Tatort: Ätzend“ nicht nur die Gefühlswelt seiner Figuren, sondern setzt auch mit einem auffallend horizontalen Erzählansatz neue Maßstäbe. Das mag sich im nächsten oder übernächsten Fall aus der Hauptstadt auszahlen, wenn die verschiedenen Handlungsfäden wieder aufgegriffen werden – für sich genommen aber ist der zweite Einsatz von Meret Becker („Feuchtgebiete“) und Mark Waschke („Der Brand“) nur ein mäßig spannendes, oft überfrachtet wirkendes Krimidrama, in dem der zu lösende Mordfall immer wieder in den Hintergrund rückt.

    Die Berliner Hauptkommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) werden auf einen grausamen Fund angesetzt: Bei Abrissarbeiten in einer Laubenkolonie entdecken Bauarbeiter ein Fass mit Säure und Überresten einer menschlichen Leiche, die bis zur Unkenntlichkeit zersetzt wurde. Wer ist der Tote? Zeitgleich wird in der Nähe eine zweite verweste Leiche gefunden, der ein Projektil im Schädel steckt. Nachdem bei der Untersuchung des Fasses ein registrierter Herzschrittmacher sichergestellt wird, führt die erste Spur zu Saed Merizadi (Husam Chadat), der in Neukölln ein Dentallabor betreibt und offenbar die Identität seines verschwundenen Bruders Ferhad angenommen hat. Seine hochschwangere Frau Layla (Elmira Rafizadeh) und sein Sohn Arash (Julius Ipekkaya), die wie er keine Aufenthaltsgenehmigung besitzen, sind in Berlin untergetaucht. Karow hat derweil noch andere Sorgen: Er will herausfinden, warum sein ehemaliger Kollege Maihack von der Drogenfahndung sterben musste. Seine Kollegin Rubin hingegen kommt ihrem Mann Victor (Aleksandar Tesla) wieder näher, der sie gerade erst verlassen hatte ...

    Wer aus dem offenen Ende im „Tatort: Das Muli“, bei dem Nina Rubin einen wichtigen Indizienfund im Berliner Spreepark machte, nicht so recht schlau wurde, erlebt im „Tatort: Ätzend“ einen Aha-Effekt: Die 962. Ausgabe der populären Krimireihe ist im Hinblick auf die parallel erzählte Geschichte um den Tod von Karows Ex-Kollegen Maihack eine direkte Fortsetzung des Vorgängers. Wer den ersten Fall der neuen Berliner Kommissare verpasst hat, wird von den Drehbuchautoren Mark Monheim („About A Girl“) und Stephan Wagner („Lösegeld“) an die Hand genommen: In der Auftaktminute platzieren die Filmemacher einen kurzen Rückblick, der auch dem Stammpublikum acht Monate nach der Erstausstrahlung von „Tatort: Das Muli“ noch einmal die Schlüsselszene und den Mord an Drogenmogul Mehmet Erdem (Kida Khodr Ramadan) ins Gedächtnis ruft. Auch der „Tatort: Ätzend“ endet wieder mit einem knackigen Cliffhanger, der frühestens im bereits abgedrehten dritten Berliner „Tatort: Wir-Ihr-Sie“ aufgelöst werden dürfte – nicht jedem Fan der Krimireihe dürfte dieser horizontale Erzählansatz schmecken.

    Die Filmemacher orientieren sich hier an anderen Serien, in denen sich beim Zuschauer erst von Folge zu Folge ein schlüssiges Gesamtbild ergibt. Das Problem bei der Sache: Zwischen den Ausstrahlungen einzelner Berliner „Tatort“-Folgen liegen bekanntlich viele Monate, und als eigenständiger Krimi funktioniert der „Tatort: Ätzend“ nur bedingt. Der zu lösende Mordfall, dessen Hintergründe in wenigen Minuten abgefrühstückt werden, gerät durch Karows Alleingänge, das tragische Schicksal der illegal in Berlin lebenden Merizadis, Rubins Familiensorgen und den zunehmend offen schwelenden Konflikt zwischen den Ermittlern immer wieder aus dem Fokus. Vor allem die Auflösung wird überhastet und uninspiriert vorgetragen. Die Odyssee der jungen Ira (Stephanie Amarell) und des Hobby-Boxers Arash (Julius Ipekkaya), der ausgerechnet bei Rubins Vater Kalle Ratke (Tilo Prückner) trainiert, wirkt hingegen wie eine Neuauflage des Streifzugs von Johanna Michels (Emma Bading) und ihrem Bruder Ronny (Theo Trebs), die im „Tatort: Das Muli“ die S-Bahnhöfe der Hauptstadt unsicher machten und ihren Häschern ein ums andere Mal durch die Lappen gingen.

    Der „Tatort: Ätzend“ hat aber auch Stäken: Neben dem ausgeprägten Berliner Lokalkolorit und einem stimmungsvollen Soundtrack-Zitat aus Nicolas Winding Refns Neo-Noir-Meisterwerk „Drive“ sind dies vor allem die bissigen, nur zu Beginn mit müden Ossi-Wessi-Kontroversen durchsetzten Dialoge des Ermittlerteams, in die sich auch die übereifrige Polizeihospitantin Anna Feil (Carolyn Genzkow) mit putziger Strebsamkeit einschaltet. Während die Kommissare charakterlich ausführlich ausgelotet werden und es insbesondere bei Karow zu einer bemerkenswerten Entwicklung kommt, mangelt es dem sperrigen Krimidrama an anderen Stellen an Tiefgang: „Ist doch absurd, oder? Der eine Mensch ist illegal und der andere nicht“, bringt Rubin das Dilemma der deutschen Asylpolitik am Beispiel der Familie Merizadi auf den Punkt, geht danach aber direkt wieder zur Tagesordnung über. So bleibt unter dem Strich vieles Stückwerk. Für die eher zart besaiteten Zuschauer ist im Übrigen auch dieser Berliner „Tatort“ nur bedingt geeignet: Schon in den Auftaktminuten wird munter in halb zersetzten Leichenteilen gewühlt.

    Fazit: Dror Zahavis „Tatort: Ätzend“ ist ein erzählerisch eigenwilliges, nur stellenweise fesselndes Krimidrama, das aber die Neugier auf den dritten „Tatort“ mit Meret Becker und Mark Waschke weckt.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top