Mein Konto
    Tatort: Die Wahrheit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Tatort: Die Wahrheit
    Von Lars-Christian Daniels

    So richtig angekommen ist Fallanalytikerin Christine Lerch (Lisa Wagner, „Vorstadtrocker“) im „Tatort“ aus München nie: Zwar durfte die Profilerin den altgedienten Kommissaren von der Isar in den vergangenen Jahren vier Mal bei den Ermittlungen unter die Arme greifen, doch einen wirklichen Mehrwert boten ihre Auftritte selten. Insbesondere im „Tatort: Die letzte Wiesn“, in dem es ein Attentat auf das Oktoberfest zu verhindern galt, blieb Lerch blass – was aber auch daran lag, dass es dem Film an einem reizvollen Bösewicht mangelte, den sie mit einer entsprechenden Charakterstudie hätte aufs Kreuz legen können. Nun ist das „Tatort“-Intermezzo von Lisa Wagner, die auch regelmäßig als „Kommissarin Heller“ im ZDF ermittelt, schon wieder beendet: Die gelegentlichen Gastauftritte waren nicht nur für die Schauspielerin, sondern auch für den Sender BR „auf Dauer unbefriedigend“, und so gehe man nun im Guten auseinander, wie der Sender betont. In Sebastian Markas „Tatort: Die Wahrheit“ ist sie nun also das letzte Mal mit von der Partie und wird in ihrer Rolle doch noch einmal gefordert – bemerkenswert ist der Krimi aber vor allem aufgrund seiner mutigen Geschichte und einer großartigen Schlusspointe, die Erinnerungen an einige Münchner „Tatort“-Highlights der Vergangenheit weckt (und hier natürlich nicht verraten wird).

    Bei einem Spaziergang mit seiner Ehefrau Ayumi (Luka Omoto) und seinem sechsjährigen Sohn Taro (Leo Schöne) beobachtet Ben Schröder (Markus Brandl), wie ein offenbar hilfloser Mann vor einer Bankfiliale herumkriecht. Als er dem Unbekannten helfen will, sticht dieser ohne Vorwarnung auf ihn ein, was Schröders Familie hilflos mitansehen muss. Während der Täter unerkannt entkommt, erliegt das Opfer wenig später seinen Verletzungen. Der Münchner Hauptkommissar Ivo Batic (Miroslav Nemec) ist geschockt von der Tat ohne erkennbares Motiv und wirkt zunehmend gereizt, was auch seinem Vorgesetzten Karl Maurer (Jürgen Tonkel) nicht verborgen bleibt, der deshalb Batic‘ Kollegen und Freund Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) zum Leiter der Ermittlungen ernennt. Unterstützt werden die beiden von Kommissar Ritschy Semmler (Stefan Betz), Assistent Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) und Fallanalytikerin Christine Lerch (Lisa Wagner), doch brauchbare Ergebnisse bleiben aus: Die Aussagen der Augenzeugen widersprechen sich und auch ein Massengentest bringt keinen Erfolg. Dann wird nach vielen Wochen eine zweite Leiche gefunden, die mit dem ersten Opfer in Verbindung stehen könnte...

    Für den 73. Fall von Ivo Batic und Franz Leitmayr hat sich der Bayerische Rundfunk etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Drehbuchautor Erol Yesilkaya („Gonger – Das Böse vergisst nie“), der zum vierten Mal ein Skript für die Krimireihe geschrieben hat, verarbeitet darin den bis heute ungeklärten Mord an Domenico L., der im Mai 2013 am Isarufer erstochen wurde. Während der TV-Premiere des Krimis beantworten reale Ermittler und das Social-Media-Team der Münchner Polizei live die Fragen der Zuschauer, und auch für die Zeit nach dem Abspann hat der Sender mit seinem Publikum noch etwas vor. Diese Ankündigungen lassen bereits erahnen, dass es sich beim „Tatort: Die Wahrheit“ um keine gewöhnliche Ausgabe der Krimireihe handelt. Vielmehr dürften beim Stammpublikum Erinnerungen an Dominik Grafs vieldiskutierten „Tatort: Frau Bu lacht“, Alexander Adolphs herausragenden „Tatort: Der tiefe Schlaf“ oder Max Färberböcks stimmungsvollen „Tatort: Am Ende des Flurs“ wach werden: All diese Münchner Krimis warteten mit eigenwilligen, wenn auch gänzlich verschiedenen Schlusspointen auf, und auch diesmal wird für Gesprächsstoff in den deutschen Wohnzimmern und in den sozialen Netzwerken gesorgt.

    Der 997. „Tatort“ ist aber auch deswegen ein ungewöhnlicher Beitrag, weil die Ermittlungen hier einmal von einer anderen Seite beleuchtet werden: Ein Tatmotiv gibt es offenbar nicht, eine Beziehung zwischen Täter und Opfer scheint ausgeschlossen, und die Ermittler eint bei ihrer Arbeit vor allem eines: ihr Frust. Während Leitmayr als Leiter der Sonderkommission wegen der ausbleibenden Fahndungserfolge von seinem Chef zusammengefaltet wird, macht es Batic wahnsinnig, dass er der verwitweten Japanerin Ayumi und ihrem kleinen Sohn nicht weiterhelfen kann. Fallanalytikerin Lerch fühlt sich in ihrem Job unterfordert und träumt vom FBI, während Assistent Kalli im Präsidium mal wieder Arbeit für drei leisten muss. Obwohl die Ermittlungen monatelang andauern und kaum Fortschritte erzielt werden, schleicht sich allerdings kein Leerlauf ins Geschehen ein: Vieles in diesem Krimidrama entwickelt sich direkt aus dem Seelenleben der Figuren und deren Verhältnis zueinander – und wenn sich Batic und Leitmayr bei einem Streit fast die Freundschaft kündigen und beim Versöhnungsbierchen in der Karaoke-Kneipe in Erinnerungen schwelgen, ist das für das „Tatort“-Duo mit den meisten Einsätzen einer der bemerkenswertesten Momente seiner 25-jährigen Geschichte.

    Eine ganz besondere Rolle kommt diesmal außerdem jenen Personen zu, die im „Tatort“ sonst meist nur wenige Sätze sagen dürfen und nach der ersten Bestandsaufnahme wieder in Vergessenheit geraten: den Augenzeugen. In einer köstlichen, parallel montierten Sequenz arbeiten sich die Ermittler einleitend durch die widersprüchlichen Aussagen all jener, die glauben, die  titelgebende „Wahrheit“ gesehen zu haben und ihre Beobachtungen im inbrünstigen Ton der Überzeugung zu Protokoll geben. Im Schlussdrittel wird klar, dass die Beantwortung der Täterfrage nur über diese Aussagen führt – doch die Filmemacher halten noch einen Trumpf in der Hinterhand und führen ihr Publikum gekonnt aufs Glatteis. Auch mit Gänsehautmomenten geizt Regisseur Sebastian Marka („Parkour“) nicht: Neben dem beklemmenden Auftaktmord und der pfiffigen Schlusspointe bleibt vor allem der nächtliche Besuch des Mörders im Haus der verängstigten Witwe in Erinnerung, bei dem das Publikum ordentlich mitzittern darf. Nicht nur deshalb dürfte nach diesem bärenstarken „Tatort“ aus München so mancher Zuschauer etwas später den Weg in den Schlaf finden als sonst.

    Fazit: Sebastian Markas „Tatort: Die Wahrheit“ ist ein ungewöhnlicher, aber höchst unterhaltsamer Krimi aus München, der neben einer originellen Schlusspointe auch eine tolle Geschichte bietet.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top