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    Tatort: Im toten Winkel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Tatort: Im toten Winkel
    Von Lars-Christian Daniels

    Spätestens seit dem engagierten TV-Auftritt eines jungen Altenpflegers während des Wahlkampfs zur Bundestagswahl 2017 und seinem flammenden Appell an Bundeskanzlerin Angela Merkel dürfte auch der Letzte begriffen haben: Unser Pflegesystem krankt an allen Ecken und Enden und benötigt beim Blick auf die kommenden Jahrzehnte dringend eine Generalüberholung. Denn die Menschen werden bekanntlich immer älter – und die händeringend benötigten Fachkräfte werden hierzulande nicht nur schlecht bezahlt, sondern sind auch einem immensen Arbeitspensum ausgesetzt, das kaum noch Zeit für den Einzelnen lässt. Schon im tollen „Polizeiruf 110: Nachtdienst“ wurden diese Missstände 2017 in einer fiktiven Geschichte angeprangert: Der Münchner Hauptkommissar Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) hatte in einem Pflegeheim am Ende mehr als ein Dutzend Leichen zu beklagen. Philip Koch beleuchtet in seinem Bremer „Tatort: Im toten Winkel“ nun das häusliche Pflegesystem und das Ergebnis fällt nicht minder überzeugend aus: Beim 32. gemeinsamen Einsatz der 2019 aus der Krimireihe ausscheidenden Bremer Ermittler kombiniert er ein aufwühlendes Drama über das Leben im Alter mit klassischen Krimi-Elementen und verlangt dem Publikum dabei einiges ab.

    Die Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) werden an den Schauplatz eines Mordes und Suizidversuches gerufen: Der Rentner Horst Claasen (Dieter Schaad) hat seine demenzkranke Frau Senta (Liane Düsterhöft) mit einem Kissen erstickt und anschließend Tabletten genommen, kann aber in letzter Sekunde gerettet werden. Geschah die Tat aus Verzweiflung, weil er sich die Pflege seiner Gattin nicht mehr leisten konnte? Der Sohn der Toten zeigt sich geschockt: Sven Claasen (Nils Dörgeloh) war über die Krankheit seiner Mutter nicht einmal informiert. Lürsen und Stedefreund, die von Rechtsmediziner Dr. Katzmann (Matthias Brenner) und ihrem Kollegen Malte Sievert (Jörn Knebel) unterstützt werden, treffen den Gutachter Carsten Kühne (Peter Heinrich Brix), der im Einzelfall über die Pflegestufe entscheidet – so auch bei Akke Jansen (Dörte Lyssewski) und ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter Thea (Hiltrud Hauschke). Er arbeitet eng mit dem Pflegedienst Domamed und dessen Leiterin Darja Pavlowa (Jana Lissovskaia) zusammen, die beim alleinerziehenden Oliver Lessmann (Jan Krauter) in keinem guten Licht steht: Lessmann beschuldigt Domamed, seine bettlägerige Frau nicht mit der nötigen Fachkompetenz zu versorgen...

    Der „Tatort“ steht seit Jahrzehnten nicht nur für solide Krimis, sondern auch dafür, in seinen Geschichten gesellschaftliche Missstände und Reizthemen aufzuarbeiten. So beschäftigte sich der Ludwigshafener „Tatort: Der glückliche Tod“ 2008 ausführlich mit dem Thema Sterbehilfe, während die vieldiskutierte „Zwei-Klassen-Medizin“ und das deutsche Gesundheitssystem 2009 im Stuttgarter „Tatort: Altlasten“ und 2011 im Berliner „Tatort: Edel sei der Mensch und gesund“ ihr Fett wegbekamen. Nun knöpfen sich Drehbuchautorin Katrin Bühlig („Bella Block“) und Regisseur Philip Koch („Picco“) die häusliche Pflege vor und variieren dabei geschickt die Perspektive: Mit dem wenig integren Gutachter Kühne gibt es neben den Kommissaren eine dritte Person, die als Türoffner in die Haushalte fungiert und dem TV-Publikum so einen kleinen Wissensvorsprung und Einblicke in den titelgebenden „toten Winkel“ der Gesellschaft ermöglicht. Auch die Selbstreflexion der Kommissare gehört in der Krimireihe fest zum Inventar: Diesmal sind es Lürsen und ihre Tochter Helen Reinders (Camilla Renschke), die sich über die mit dem Älterwerden verbundenen Veränderungen und Sorgen Gedanken machen – das wirkt erst auf der Zielgeraden des Films etwas zu kitschig.

    Denn durch die nüchterne, fast dokumentarische Inszenierung, die meist fehlende Filmmusik und den auffälligen Fokus auf die Geräuschkulisse ergibt sich im 1051. „Tatort“ ansonsten ein ungemein authentisches und ungeschöntes Bild: Schon die beklemmende Eröffnungssequenz, in der der verzweifelte Claasen seine Frau tötet und beim anschließenden Notruf möglichst wenig Aufsehen um seinen Selbstmord machen will („Ich möchte nicht, dass die Nachbarn sich von uns belästigt fühlen.“), gibt einen Vorgeschmack auf die fordernde Gangart, die die Filmemacher in ihrer Kreuzung aus klassischem Sonntagskrimi und mitreißendem Pflegedrama vorlegen. Aggressionen beim Waschen in der Badewanne stehen ebenso fest auf der Tagesordnung wie Fäkalunfälle auf dem Bettlaken. In der zunehmend überforderten Akke Jansen (überragend: Dörte Lyssewski, „Eine unbeliebte Frau“) finden vor allem Zuschauer, die selbst einen Angehörigen pflegen, eine starke Identifikationsfigur, die ihnen mit ihrer ständigen Zerrissenheit zwischen der Liebe und Abneigung gegenüber der eigenen Mutter („Wann stirbst du endlich, Mama!?“), der kraftraubenden Rund-um-die-Uhr-Betreuung und der ohnmächtigen Wut auf den einflussreichen Gutachter aus der Seele sprechen dürfte.

    Die Ermittler wiederum setzen sich mit der moralischen und juristischen Wertung des ersten Todesfalls wohltuend differenziert auseinander, während die Filmemacher erfreulicherweise auf Systemkritik mit dem Holzhammer verzichten und im Hinblick auf die Verdächtigen selten in Schwarz-Weiß-Malerei verfallen: Mit der profitgierigen Domamed-Chefin gibt es nur eine einzige wirklich unsympathische Figur, denn den korrupten Gutachter plagen schon bald Bedenken an den menschenverachtenden Machenschaften des Pflegedienstes. Der ruhige Erzählton und der Verzicht auf einen klassischen Spannungsbogen steht insbesondere der gewohnt besonnenen Lürsen gut zu Gesicht, die 2015 mit dem ähnlich leisen und kraftvollen „Tatort: Die Wiederkehr“ einen ihrer stärksten Fälle verzeichnete. Durch die für die Krimireihe fast obligatorische zweite Leiche nach einer knappen Stunde funktioniert der „Tatort: Im toten Winkel“ aber nicht nur als kritischer Abgesang auf das häusliche Pflegesystem und als nachdenklich stimmende Gesellschaftsstudie, sondern hinten heraus auch als klassischer Whodunit – einziger Wermutstropfen ist die zwar überraschende, aber nicht ganz überzeugende Auflösung der Täterfrage.

    Fazit: Philip Kochs „Tatort: Im toten Winkel“ ist keine leichte Kost – dafür aber ein beklemmendes und stark gespieltes Krimidrama, in dem die Filmemacher gnadenlos die Finger in die Wunden des häuslichen Pflegesystems legen.

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