Eine Performance für die Ewigkeit
Von Michael MeynsDen lateinamerikanischen Militärdiktaturen des 20. Jahrhunderts mangelte es ganz sicher nicht an offen ausgestellter Brutalität und Grausamkeit. Aber besonders perfide war es, Regimegegner*innen spurlos verschwinden zu lassen, was den Familien der Opfer zusätzlich zu ihren Geliebten auch noch die Chance auf einen Abschluss nahm. Auf diese Weise verschwand Anfang 1971 auch der Architekt und frühere Abgeordnete Rubens Paiva. Dass dessen Schicksal in seiner brasilianischen Heimat allgemein bekannt ist, liegt vor allem an den Leistungen seiner Frau Eunice, die nun im Zentrum von Walter Salles' mitreißendem, berührendem Film „Für immer hier“ steht. In einer unter anderem mit dem Golden Globe ausgezeichneten und für den Oscar nominierte Performance spielt Fernanda Torres eine Frau, die lange im Hintergrund stand, aber im Angesicht einer verbrecherischen Diktatur dazu gezwungen wird, kaum zu glaubende Stärke zu entwickeln. Um sich und ihre Kinder zu schützen, aber auch, um die Erinnerung an ihren verschwundenen Mann zu wahren.
Brasilien, Weihnachten 1970: Die Sonne brennt an der Copacabana, dem berühmten Strand von Rio de Janeiro. In Sichtweite bewohnt die Familie Paiva ein ausladendes Haus, genießt das Leben, feiert mit Freunden und versucht, die Zeichen der immer brutaler agierenden Militärdiktatur zu ignorieren. Erst als die älteste Tochter Vero (Valentina Herszage) in eine Polizeikontrolle gerät, gibt Rubens (Selton Mello), ein erfolgreicher Architekt, dem Wunsch seiner Frau Eunice (Fernanda Torres) nach, Vero nach London ins Exil zu schicken. Mit den vier anderen Kindern – den Töchtern Eliana, Nalu, Maria und dem Sohn Marcelo – bleiben die Eltern trotz der Warnungen ihrer Freunde in Rio, bis eines Tages die Militärpolizei Rubens verhaftet und sich das Leben der Familie für immer ändert…
Selbst wenn die Kinder der Familie zu Beginn noch unbeschwert am Strand spielen und sich über den kleinen zugelaufenen Hund freuen, schwebt vom ersten Moment an ein Gefühl der Bedrohung über den Bildern. Als Eunice sich im Wasser treiben lässt und gen Himmel blickt, sieht sie einen Hubschrauber. Unter normalen Umständen sicherlich kein Anlass zur Sorge, doch dies sind keine normalen Umstände, stattdessen herrscht das sechste Jahr einer Militärdiktatur, die sich 1964 an die Macht putschte und erst 1985 ihr Ende finden sollte. Und gerade in lateinamerikanischen Militärdiktaturen wurden Hubschrauber auch dazu benutzt, Regimekritiker*innen oder andere unliebsame Personen aufs Meer hinauszufliegen und dort aus dem Fluggerät in den sicheren Tod zu schmeißen. Als Zuschauender ahnt man also schon vom ersten Moment, dass sich das schöne Leben der Familie bald verdunkeln wird, man nimmt die Zeichen stärker wahr, als es die Familie selbst es zu tun scheint. Wenn der Vater geheimnisvolle Anrufe bekommt, unmarkierte Umschläge weiterreicht, sieht seine Frau Eunice es zwar, nimmt es aber nicht ernst, will es vermutlich auch einfach nicht ernst nehmen.
Erst als sie selber und ihre Tochter Eliana von der Militärpolizei mitgenommen und tagelang verhört werden, kann auch Eunice nicht mehr ignorieren, dass sich alles geändert hat. Konsequent erzählt Walter Salles aus der Perspektive seiner Protagonistin, die fortan versucht, einen Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten. Aus der Hausfrau, die sich stets im Hintergrund hielt und sich ganz in den Dienst ihrer Familie stellte, wird so notgedrungen das neue Familienoberhaupt. Sie verhandelt mit Rubens Kollegen im Büro oder den Angestellten in der Bank, wo ihr zwar überall Sympathie entgegenschlägt, ihr aber doch niemand wirklich helfen kann. Aus Angst vor der Militärdiktatur, aber auch, weil niemand wirklich weiß, was passiert ist. Offiziell wurde Rubens nicht verhaftet, insofern kann Eunice auch mit der Hilfe von Anwälten nicht herausfinden, wo Rubens inhaftiert ist und ob er überhaupt noch lebt.
Das könnte der Stoff für ein klassisches Melodram sein, für dramatische Momente voller Wut und Trauer. Aber der „Central Station“-Regisseur wählt den komplett entgegengesetzten Weg: Auf fast schon dokumentarische Weise zeigt er den Versuch von Eunice, ihre Familie zusammenzuhalten und der Militärdiktatur mit Würde und ungebrochener Konsequenz entgegenzutreten. In Fernanda Torres hat er dafür die ideale Darstellerin gefunden, die ihre Figur zu einem Symbol der Resilienz werden lässt. Es ist eine zunächst stille, aber dann alles überragende Performance. So verwundert es nur kurz, warum ausgerechnet eine in Hollywood bislang noch wenig bekannte Brasilianerin den mitnominierten Superstars wie Angelina Jolie („Maria“) oder Nicole Kidman („Baby Girl“) den Golden Globe für die Beste Schauspielerin weggeschnappt hat.
Erst viele Jahre später, Mitte der 1990er Jahre, wird Eunice einen moralischen Erfolg feiern können und endlich Gewissheit über das Schicksal ihres Mannes erhalten. Sie hat inzwischen Jura studiert und setzt sich für unterdrückte Minderheiten ein, ihr Sohn Marcelo ist seit einem Unfall querschnittsgelähmt und zum Schriftsteller geworden: Sein 2015 erschienenes Buch „Ainda Estou Aqui“ (= „Ich bin immer noch hier“) diente als Vorlage für diesen Film, der in seiner Heimat zum besucherstärksten Titel seit der Corona-Pandemie avancierte. Dieser Erfolg ist sicherlich ein Zeichen für seine große Qualität, aber auch für den Wunsch nach Aufarbeitung einer zwei Jahrzehnte langen Militärdiktatur, die vor allem auch durch die grausame Methode des Verschwindenlassens tiefe Spuren in der Psyche eines ganzen Landes hinterlassen hat.
Fazit: In seinem berührenden Drama „Für immer hier“ schildert Walter Salles die Folgen der brasilianischen Militärdiktatur auf die Angehörigen der Opfer. Mit der herausragenden Fernanda Torres in der Hauptrolle beschreibt er, wie eine Frau und ihre Familie der Diktatur mit Würde und Resilienz entgegentreten.