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    À la Carte! - Freiheit geht durch den Magen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    À la Carte! - Freiheit geht durch den Magen

    Die Erfindung des französischen Restaurants

    Von Sidney Schering

    Als sich der Regisseur und Autor Éric Besnard nach seinem internationalen Kinohit „Birnenkuchen mit Lavendel“ auf Ideensuche für ein neues Projekt begab, beschloss er, diesmal einen durch und durch französischen Film drehen zu wollen. Einen, dessen Zutaten der französischen Seele genauso sehr entsprechen wie Sternenbanner und Selfmade-Erfolgsgeschichten dem US-amerikanischen Selbstverständnis. Und was wäre französischer als die heimische Essenskultur und das gemeinsame Entschleunigen während einer geteilten kulinarischen Erfahrung?

    Was Besnard bei seiner Recherche dann allerdings doch ziemlich überraschte, war die Erkenntnis, dass diese Ingredienzien noch gar nicht so lange wie angenommen zur französischen Seele gehören. Damit stand der Plan für den neuen Film fest: Eine fiktionalisierte, aber authentische Origin Story des für Frankreich so typischen geselligen Genusses sollte es werden – und wie gute französische Restaurants hat nun auch „À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen“ viele Reize zu bieten, die weit über die Grenzen Frankreichs hinaus den Appetit anregen werden!

    Während an den französischen Höfen noch immer die pure Dekadenz regiert ...

    Frankreich im 18. Jahrhundert: Dem einfachen Volk ist allein simple Kost vergönnt, während Adelshäuser prachtvolle Speisen als Statussymbol nutzen. Der Geschmack spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, bedeutsamer sind Üppigkeit der Tafel, die raffinierte Präsentation der Speisen und das Prestige der verwendeten Zutaten. Restaurants gibt es nicht – Aristokraten haben ihre Hofgastronomie, Reisende müssen mit spärlicher Kost in Poststationen oder Herbergen vorliebnehmen.

    Als der talentierte Koch Manceron (Grégory Gadebois) vom Herzog von Chamfort (Benjamin Lavernhe) für die Verwendung solch banaler Zutaten wie Kartoffeln beschimpft wird, zieht sich der Gescholtene entrüstet auf einen Bauernhof zurück, wo er Durchreisende verpflegt. Als die geheimnisvolle Louise (Isabelle Carré) ihn um eine Lehrlingsstelle bittet, wachsen immer größere Ambitionen heran – und das allererste Restaurant Frankreichs öffnet seine Tore…

    Ein perfektes Team

    Éric Besnard und sein Schreibpartner Nicolas Boukhrief gehen historisch plausibel vor, nehmen sich aber trotzdem dramaturgische Freiheiten: Sie verdichten etwa Entwicklungen, die sich in der Realität über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren erstreckten und die erfinderischen Leistungen vieler unabhängiger Personen umfassten, auf nur wenige Monate und die Beschäftigten eines Restaurants. Hier prallen Manceron und Louise aufeinander – sie bringt den nötigen Drive als Geschäftsfrau, er die passende Besonnenheit als Gastgeber mit.

    Wie das Duo Fortschritte macht und dabei gemeinsam schrittweise das Restaurantkonzept entwickeln, hat Witz, Charme sowie eine märchenähnliche, warmherzig-heimelige Note – und wie die meisten guten Märchen trifft auch „À la Carte!“ in seinem altmodischen Setting Aussagen, die weiterhin von Bedeutung sind. Neben den offensichtlichen Themen von Gleichheit und Gastlichkeit sind es Gedanken über Ernährung und Kochkunst, die (wenn auch aus verschiedenen Gründen) damals wie heute Relevanz haben: Manceron spricht sich etwa (ähnlich wie viele heutige Spitzenköche) für eine leichtere Küche mit regionalen sowie saisonalen Zutaten aus, in der Speisen nur behutsam gewürzt werden. Es ist eine Kehrtwende, die zu jenem Zeitpunkt tatsächlich einige Köche vorangetrieben haben, um sich von den kulinarische Überresten des Mittelalters zu befreien, wo Prahlerei mit überbordendem Einsatz exotischer Zutaten regierte.

    ... verfolgen Manceron (Grégory Gadebois) und Louise (Isabelle Carré) deutlich bescheidenere Ziele.

    Besnard und Boukhrief lassen die Aktualität von Mancerons Gedanken zwischen den Zeilen sanft mitschwingen, statt allzu deutlich und mahnend den Zeigefinger zu erheben. Viel mehr konzentrieren sie sich auf das ebenso charmante wie konsequente Auserzählen der Lektion, dass oftmals die kleineren, bescheideneren Dinge die prägendere, schönere Duftmarke hinterlassen. Das gilt für den Speisenteller ebenso wie für gedankliche Konzepte: Manceron und Louise nehmen sich natürlich nicht vor, direkt die ganze französische Seele umzukrempeln. Aber ihre kleinen, beständigen Beiträge führen letztlich genau dazu. Das mit einem engen Fokus statt als historisches Epos über eine französische Gastro-Revolution zu erzählen, ist nicht nur angemessener, sondern auch köstlicher.

    Die Bilder, die Besnard seinem Publikum auftischt, runden diesen Geschmack ab: Mancerons rustikale Hütte sieht einladend aus, und die detailreichen Kostüme haben angenehmen Flair. Wenn der Vollblutkoch seiner Auszubildenden beim Kaminfeuer beibringt, den Zutaten eine angemessene Fürsorge zukommen zu lassen, überträgt sich seine kulinarische Passion auf die gesamte Szenerie – zwischen Grégory Gadebois und Isabelle Carré sprühen sehnsüchtige Funken und die Sequenz erstrahlt in einem kuschelig-romantischen Licht. Vor allem aber ist passenderweise das Essen in „À la Carte!“ ein regelrechter Augenschmaus.

    Historisch akkurates Essen

    Egal ob die opulent ausstaffierten Festtafeln am Hofe mit ihren teils absurd ausgeschmückten Speisen oder das einfachere, dennoch liebevoll angerichtete Essen in Mancerons Gaststätte: Besnard und sein Kameramann Jean-Marie Dreujou setzen die kulinarischen Kuriositäten und Köstlichkeiten verdammt appetitlich in Szene. Zudem wachten die französischen Starköche Thierry Charrier und Jean-Charles Karmann über sämtliche Szenen, in denen mit Lebensmitteln hantiert wurde. Sie achteten auf historisch akkurate Rezepte, Zubereitungsweisen sowie Präsentationen. Diese Detailtreue mag den Wenigsten auffallen, diese unbedingte Passion für das Essen und seine Geschichte wird hingegen jeder sofort spüren.

    Regisseur Besnard beschränkt sich allerdings nicht nur auf eine visuelle Pracht – auch auf akustischer Ebene legt sich der Filmemacher ins Zeug. Schon die erste Sequenz nach dem reduzierten Vorspann setzt auf eine beeindruckende klangliche Immersion: Die zuvor herrschende Ruhe wird radikal gebrochen, wenn wir zusammen mit dem passionierten Koch plötzlich in einer geschäftigen Großküche stehen – inmitten klirrender, klappernder und rasselnder Töpfe, Pfannen, Drehspieße und Kochwerkzeuge, lodernder Flammen, planschendem Wasser sowie murmelnden, ächzende Assistenzköchen.

    "À la Carte!" liefert nicht nur einen kulinarischen, sondern auch einen akustischen Hochgenuss.

    Solche Augenblicke der akustischen Rundumimmersion ziehen sich durch den ganzen Film. Sei es das schallende 360°-Gelächter, mit dem die Gäste des Herzogs den Koch abstrafen, weil er ihnen vermeintlichen Schweinefraß wie Kartoffeln und Trüffel vorgesetzt hat, oder eine penetrant um Manceron und Louise summende Fliege während eines selbst ohne sie schon unangenehmen Zwiegesprächs. Speziell durch seine Tonabmischung entwickelt „À la Carte!“ trotz seiner kleinen, feinen, komprimierten Geschichte ein enormes akustisches Aroma – der unscheinbaren, folgenschweren Spezialität ähnelnd, die diese Erzählung überhaupt erst in Gang setzt.

    Spätestens, wenn nach dem ganzen Gewusel, Gelächter und Geklirre gen Ende des Films der Fokus über Manceron und Louise hinauswächst, während die sanfte Filmmusik von Christophe Julien und die angenehme Raumklang-Geräuschkulisse glücklicher Restaurantgäste zu einer harmonischen Gesamtkomposition verschmelzen… ja, dann wird sie auch im Kino spürbar: Die französische Seele des geselligen Genießens.

    Fazit: „À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen“ ist eine filmische Köstlichkeit, die man sich ganz sachte im Munde zergehen lassen möchte – eine wunderschön ausgestattete Verneigung vor Gastronomie, Gastlichkeit und Geselligkeit!

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