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    Charlatan
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Charlatan

    Genie, Sadist oder Quacksalber?

    Von Janick Nolting

    Jan Mikolášek hat unzähligen Menschen das Leben gerettet. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt der tschechische Arzt als Star seiner Branche, vielen Skeptikern war er aufgrund seiner unkonventionellen Methoden zugleich aber auch ein Dorn im Auge. Heute ist Mikolášek beinahe in Vergessenheit geraten, doch die polnische Star-Regisseurin Agnieszka Holland (oscarnominiert für „Hitlerjunge Salomon“) will das ändern! Nur ein Jahr nach ihrem Film „Mr. Jones“ hat sie nun schon direkt das nächste große Biopic fertiggestellt. Sie zeigt Mikolášek in ihrer Filmbiografie als ambivalente, getriebene Persönlichkeit und beweist dabei ein erzählerisches Geschick, das man ihr nach ihrem letzten, ziemlich drögen Werk gar nicht mehr zugetraut hätte.

    Bei Jan Mikolášek (Ivan Trojan) stehen die Menschen Schlange: Der Experte für Kräuterkunde ist vor allem für seine Fähigkeit bekannt, anhand des Urins seiner Patienten deren Erkrankung festzustellen. Sogar das Todesdatum kann er mitunter vorhersagen! Doch der Arzt ist auch eine gespaltene Persönlichkeit, auf der einen Seite ein Genie, auf der anderen Seite ein verbitterter Mann mit Hang zu Grausamkeiten. Darüber hinaus ist sein Status dauerhaft in Gefahr. Nicht wenige stempeln ihn wegen seiner seltsamen Heilmethoden als Scharlatan ab – und seine Liebesbeziehung mit seinem Assistenten František Palko (Juraj Loj) soll auch lieber geheim bleiben…

    Kann Jan Mikolášek mit seinen außergewöhnlichen Methoden wirklich Menschen heilen - oder kann er sich einfach nur gut verkaufen?

    Agnieszka Hollands Film ist aus formaler Sicht im Grunde genommen lehrbuchreif. Die Kameraarbeit, der Schnitt, die Führung der Darsteller, das alles zeugt auch in „Charlatan“ vom großen Können der Regisseurin. Dazu glänzt ihr Film mit üppiger Ausstattung, die Sets und Kostüme lassen das Tschechien aus der Mitte des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll wieder auferstehen. Zugleich beraubt dieser Routine- und Lehrbuchcharakter dem Film jedoch auch seiner Ecken und Kanten. Viel gewagt hat man hier nicht. Das ist alles zu brav, zu uninspiriert und steif in Szene gesetzt und abgefilmt. Hollands Historiendrama wirkt, genau wie es zuletzt schon bei „Mr. Jones“ das Problem war, insgesamt zu altbacken und generisch, um inszenatorisch irgendwie in Erinnerung zu bleiben. „Kino der alten Schule“, diese Bezeichnung drängt sich einem da auf, im besten wie im langweiligsten Sinne.

    Faszinierende Hauptfigur

    Erstaunlich mitreißend gelingt Hollands Film hingegen die Zeichnung der Hauptfigur, mit Ivan Trojan kann sie sich dabei zudem auf einen starken Darsteller verlassen. Der Theater- und Filmschauspieler verkörpert den Protagonisten wunderbar subtil, voller Fragilität und Scharfsinn und dennoch mit einem gewissen Hang zum grantigen Verhalten. Doch auch das Drehbuch von Marek Epstein, das sich nur lose an Mikolášek überlieferter Autobiographie anlehnt, traut sich glücklicherweise, von einem bloßen Abfahren einzelner biographischer Stationen abzusehen. Stattdessen beweist „Charlatan“ Mut zur Leerstelle und Sprunghaftigkeit.

    Das fühlt sich manchmal etwas wirr an, entblättert dabei aber den Charakter seiner Hauptfigur gekonnt anhand kurzer, verdichteter Einblicke. Etwa in wenigen Rückblenden in deren Jugendjahre, in denen sie von Ivan Trojans Sohn Josef gespielt wird. Wenn der angehende Heiler in seiner Ausbildung eine Schar Katzenbabys ertränken soll und diese stattdessen in einem sadistischen Ausbruch immer wieder gegen einen Stein schmettert, dann ist das nicht nur die verstörendste Szene des Films, sondern ein echter Schock, der den Wunderarzt plötzlich gar nicht mehr so unantastbar und makellos erscheinen lässt.

    Großartige Liebesszenen

    Einen erheblichen Teil von Agnieszka Hollands Biopic nimmt die Liebesbeziehung zwischen Mikolášek und seinem Assistenten František ein. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die sensiblen, erotischen Szenen zwischen den beiden in diesem Historienfilm die eigentliche Attraktion sind? Agnieszka Holland fängt diese Momente mit erstaunlicher Sensibilität und Intimität ein und versteht es, der verbotenen Liebe dennoch ein permanentes Gefühl von Anspannung und Angst vor einem Outing zu verleihen. Zugleich schleicht sich jedoch auch der Eindruck ein, dass die Szenen aus dem tragischen Privatleben der Hauptfigur wesentlich besser funktionieren als dessen Verwicklung mit den Behörden und der Politik.

    Hollands Vorhaben, erneut die große Zeitgeschichte vor dem Schicksal einer ebenso herausragenden wie unscheinbaren Persönlichkeit zu erzählen, ist zweifellos lobenswert. Ihr gelingt das sogar erstaunlich kurzweilig und wesentlich mitreißender als zuletzt in „Mr. Jones“, doch ein wirklich cleveres Gesamtbild wollen die beiden Ebenen in „Charlatan“ nicht ergeben. Es gibt eine Szene, da sagt Ivan Trojans Figur, er würde sich nicht für Politik interessieren. Das will man der Regisseurin nicht unterstellen, doch das Vorbeiziehen von nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur gerät dann doch etwas arg simpel gestrickt. Das Leben und Leiden unter beiden Systemen spielt zwar eine wichtige Rolle, doch Holland interessiert sich am Ende doch lieber für die Zauberstückchen ihres Wunderheilers. Ein, zwei Urinuntersuchungen weniger hätten dem Film sicher nicht geschadet und an anderer Stelle Freiräume für einen etwas breiteren Blick auf das große Ganze eröffnet.

    Fazit: „Charlatan“ ist zwar etwas zu routiniert runterinszeniert, funktioniert als Mix aus historischem Biopic und Liebesgeschichte aber dennoch erstaunlich gut.

    Wir haben „Charlatan“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er als Berlinale Special gezeigt wurde.

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