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    Die Missetäter
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Missetäter

    Mehr als 3 Stunden: Ein Bankraubfilm, wie ihr ihn noch nie gesehen habt

    Von Jochen Werner

    Dreieinhalb Jahre Knast – oder noch 25 weitere Jahre hinterm Bankschalter? So lautet die existenzielle Gleichung in „Die Missetäter“, vor die sich der Bankangestellte Morán (Daniel Elías) gestellt sieht. Seine Wahl fällt eindeutig aus: Er bricht in den eigenen Tresorraum rein, lässt dort 650.000 Dollar (und ein paar herumliegende Pesos) mitgehen, weiht seinen Kollegen Román (Esteban Bigliardi) ein und stellt sich schließlich freiwillig der Polizei. Dort gesteht er alles, abgesehen vom Verbleib des gestohlenen Geldes, das die Jahre bis zu seiner Entlassung in Románs Wandschrank verbleiben soll. 325.000 Dollar für jeden der beiden – das entspräche in etwa der Summe, die sie bis zur Pensionierung verdienen würden. Morán verlangt nicht nach einem Luxusleben, nur die Befreiung von der Geißel der lebenslangen Lohnarbeit.

    Román will zwar anfangs nichts davon wissen, lässt sich aber schließlich doch auf den kriminellen Plan ein – ein bisschen auch durch Erpressung, immerhin droht ihm Morán damit, ihn bei der Polizei als seinen Komplizen zu nennen. Ganz wohl ist ihm allerdings nicht dabei, schon gar nicht, als er ins Visier seines Chefs Del Toro (Germán de Silva) und der ermittelnden Kommissarin Laura Ortega (Laura Paredes) gerät. Die meinen in Román den Komplizen Moráns identifiziert zu haben, können ihm jedoch nichts beweisen und beschließen deshalb, ihn nur noch mit den schlimmsten und stumpfesten Arbeiten zu beauftragen und ihm so tagtäglich das Leben zur Hölle zu machen. Also, noch mehr als ohnehin schon.

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    Nachdem einer von ihnen den Tresor leergeräumt hat, wird den verbliebenen Bankangstellten vom Boss die Hölle heiß gemacht.

    Es gibt dann noch eine Reihe von Plotversatzstücken: Morán trifft im Gefängnis auf den Gangster Garrincha (erneut Germán de Silva in einer Doppelrolle, als Boss drinnen wie draußen), der Schutzgeld von ihm erpresst, und Román entscheidet sich, das Geld in einer Art Höhle zu verstecken. Aber im Wesentlichen folgt „Die Missetäter“ einer Bewegung des fortschreitenden Auseinanderdriftens. Román trifft beim Verstecken der Beute auf eine Gruppe deutlich freigeistigerer Freunde – Ramón, Norma und Morna. Der Film macht sich einen Spaß aus all diesen Anagrammen – und bleibt eine Weile bei ihnen hängen. Eine Weile, in der die Zeit selbst sich auszudehnen scheint. Könnte das ein Vorgeschmack dieser Freiheit sein, die in monetärer Form auf ihn und Morán wartet?

    Der Film von Rodrigo Moreno greift sich eine Handvoll Handlungsstränge aus Hugo Fregoneses „Apenas Un Delincuente“ aus dem Jahr 1949 heraus – ein Klassiker des argentinischen Film-noir. Doch wo das Vorbild noch einer klassischen Heist-Thriller-Dramaturgie folgt, geht es Moreno eher um die allmähliche Auflösung all dieser spannungsdramaturgischen Handlungslogiken. Je länger der mit fast 190 Minuten nicht eben kurze Film voranschreitet, desto flaneurshafter und mäandernder wird er, und das hat durchaus System. Denn am Ende geht es darum, sich aus der Mechanik zutiefst verinnerlichter alltäglicher Handlungsweisen herauszulösen.

    Was machen mit der ganzen Freiheit

    Auf ebensolche Mechaniken hat „Die Missetäter“ ein paar recht hübsche Parodien aus dem Ärmel zu schütteln, nicht nur im gräulich-entmenschlichten beruflichen Umfeld der Bank, wo Románs Stempeltempo zunächst nicht ausreicht, sondern auch im häuslich-familiären Rahmen – etwa mit einer hübschen Szene, die fast, aber nicht ganz zum Running Gag erweitert wird und in der ein stets zu kleines Wasserglas eine Rolle spielt. Tatsächlich ist Morenos Film gar nicht zuletzt auch eine Komödie mit einigen wirklich lustigen Augenblicken – die sich allerdings sehr entspannt in den träumerisch-melancholischen Grundton einfügen und sich auf dem Weg vom einen zum nächsten Gag keineswegs hetzen lassen.

    Im Kern beschreibt „Die Missetäter“ eine Bewegung der Öffnung, die sich am Ende nicht nur als Befreiung entpuppt. Denn wenn sie ihr kleines, enges Leben und die Gefangenschaft in der Mühle ihrer grauen, eintönigen Jobs hinter sich lassen, eröffnen sich für Morán und Román auch neue Fragen, die vielleicht selbst offenbleiben müssen – jedenfalls für die Dauer dieses Films. Denn was fangen sie nun eigentlich an mit dieser neuen Offenheit? Ins Kino gehen wäre eine Option, aber da laufen auch nur alte Nouvelle-Vague-Filme, und der junge Videomacher, den man unten am Fluss kennenlernt, macht gar keine Filme mehr, denn das Kino sei tot. Und dann wieder, naja, vielleicht doch noch nicht ganz.

    MUBI
    Vor die Wahl gestellt, ob er lieber noch 25 Jahre schuften oder stattdessen „nur“ dreieinhalb Jahre hinter Gittern will, hat Morán (Daniel Elías) eine klare Antwort.

    Es ist ein bisschen ein unbestimmtes, vages Verhältnis zur Regression, das „Die Missetäter“ einzunehmen scheint. Einerseits erklärt er sich zweifelsfrei ziemlich solidarisch mit den Sehnsüchten seiner Protagonisten, mit ihrem Bedürfnis nach Ausbruch und ihrer tastenden Suche nach dem, was Freiheit eigentlich für sie bedeuten könnte. Eine wirklich gute Antwort auf die letztere Frage scheint ihm allerdings auch nicht einzufallen – eine Mischung aus alten Filmen und zurück zur Natur scheint jedenfalls noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Das könnte man dem Film selbst nun als eine gewisse Rückwärtsgewandtheit vorwerfen, oder man kann aber auch davon ausgehen, dass er selbst durchaus um diesen Umstand weiß und im Umgang damit eine eher melancholisch gefärbte Ratlosigkeit offenlegt. Wir entscheiden uns für Zweiteres.

    Allerdings steht „Die Missetäter“ dann wiederum sein Hang zur allzu clever anmutenden Anagrammatik, zur Doppelbesetzung und all den Spiegelspielereien etwas im Weg. Auch wenn derlei postmodernes Spiel mit Doppelgängern und Metaebenen im kontemporären argentinischen Kino gerade schwer en vogue ist und – etwa in den Arbeiten des Kollektivs El Pampero Cine, das hier in Gestalt der Stammschauspielerin Laura Paredes auch personell vertreten ist – mit „La Flor“ oder „Trenque Lauquen“ in den letzten Jahren hochgelobte und vielgeliebte Filmexperimente hervorbrachte, wirkt es hier etwas deplatziert, etwa wie ein barockes Ornament in einem eigentlich eher dem Minimalismus zuneigenden Film.

    Alles im Fluss

    Aber auch das fällt letzten Endes nicht zu schwer ins Gewicht, denn im Grunde bleibt „Die Missetäter“ doch auch über seine beträchtliche Laufzeit vor allem ein charmanter, entspannt dahinfließender Film. Ein Film vielleicht, dem der allerletzte Kick fehlt, um wirklich hundertprozentig zu überzeugen, aber im Grunde passt das gar nicht so schlecht zu seinen grundlegenden Fragestellungen. Nun, da wir uns etwas Zeit und Freiheit errungen haben, was machen wir damit? Man kann drei Stunden auf jeden Fall schlechter verbringen als mit dem Anschauen dieses nicht perfekten, aber schönen und charmanten Films.

    Fazit: Man weiß nicht immer ganz genau, worauf „Die Missetäter“ eigentlich hinauswill, und kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Film selbst es genauso wenig weiß. Aber man mäandert durchaus gern drei Stunden mit ihm, aus den Zwängen des Alltags in eine noch amorphe Idee von Freiheit. Kein makelloser, aber ein schöner Film.

    Wir haben „Die Missetäter“ im Rahmen des Festivals Around the World in 14 Films gesehen.

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