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    Tragic Jungle
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tragic Jungle

    In diesem Netflix-Original schlägt der Dschungel zurück!

    Von Teresa Vena

    Die mexikanische Regisseurin Yulene Olaizola hat sich mit Werken wie „Fogo“ längst einen Namen als singuläre Vertreterin des Autorenfilms gemacht. Ihr fünfter Langfilm „Tragic Jungle“ erscheint nun nach seiner Weltpremiere beim Filmfestival in Venedig direkt bei Netflix – und es wird spannend sein zu beobachten, wie ein Streaming-Publikum auf den herausfordernden Film, der in Sachen Stimmung und Intension an jüngst erschienene Titel wie „Der Schamane und die Schlange“ von Ciro Guerra oder „Zama“ von Lucretia Martel erinnert, reagieren wird.

    Ähnlich wie bei den beiden genannten Vorgängern verlegt auch Yulene Olaizola die Handlung in die Vergangenheit, um auf die bewegte Kolonialgeschichte Lateinamerikas hinzuweisen. Zugleich bleibt die Natur nicht nur Schauplatz, sondern wird auch selbst zur Protagonistin, die schließlich mit der romantischen Vorstellung der Eintracht des Menschen mit der unberührten Natur bricht. Dabei dient die Form des Historiendramas auch der gezielten Verfremdung, um die mythische und surreale Stimmung des Films zusätzlich zu befeuern.

    Ist Agnes (Indira Rubie Andrewin) ein Mensch aus Fleisch und Blut? Oder ein Geist, der den Dschungel rächt?

    Zentralamerika um 1920: Zwei einheimische dunkelhäutige Frauen tasten sich, vorwärtsgetrieben von ihren Begleitern, durch den Dschungel an der Grenze zwischen Mexiko und dem heutigen Belize. Sie wurden gegen ihren Willen als Bräute für die ausländischen Großgrundbesitzer ausgewählt. Einer von ihnen, Agnes (Indira Rubie Andrewin), gelingt die Flucht. Dabei stößt sie auf eine Gruppe von Arbeitern, die im Dschungel Kautschuk abtragen. Zuerst ist der Argwohn auf beiden Seiten groß. Verständigen können sich die Männer und Agnes nur mit Zeichensprache.

    Durch Agnes' Anwesenheit wird das Gleichgewicht zwischen ihnen durcheinandergebracht. Die harten Arbeitsbedingungen im Dschungel erfordern einen Zusammenhalt, dem Persönliches weitgehend untergeordnet wird. Doch mit der Ankunft der Frau kochen bisher zurückgestellte Bedürfnisse hoch, die zwangsläufig zum Streit zwischen den Männern führen. Die betörend schöne Agnes scheint einfache Beute – doch bald wird klar, dass sie gar nicht so wehrlos ist. Vielmehr scheint von ihr eine übernatürliche Stärke oder eine Art Fluch auszugehen – denn nach und nach geht es den Männern an den Kragen…

    Die Rache des Dschungels

    Im weißen Kleid und ohne mehr als ein paar Worte sprechend erscheint Agnes wie ein Geist. Inmitten der rohen Natur und der inzwischen genauso verrohten Männergemeinschaft wirkt sie wie ein reines und unschuldiges Wesen. Wie ein mystische Gestalt flößt sie Ehrfurcht ein, wird aber auch zum Gegenstand der Begierde. Wie Motten vom Licht werden die Arbeiter von ihr angezogen und nehmen für die Befriedigung ihres Begehrens kopflos ihr Verderben in Kauf. Agnes hat große Ähnlichkeiten mit Xtabay, einem weiblichen Dämon, einer Art Femme-fatale-Figur aus der Mythologie der Maya. Die Legende besagt, dass sie den Männern im Wald mit ihrer Schönheit aufgelauert habe, um sie dann nach der sexuellen Vereinigung zu töten.

    Im Dschungel lauert der Tod an jeder Ecke – in Form von Krankheiten und Unfällen. In „Tragic Jungle“ geht es aber noch weiter. An den Männern, die bisher als Eindringlinge bis zu einem gewissen Grad toleriert wurden, rächt sich der Dschungel schließlich mit dem Tod oder dem Wahnsinn. Eigentlich ist er, oder in diesem Fall vielleicht doch eher eine sie, die eigentliche Hauptfigur. Sie ist lebendig und rächt sich für die Verletzungen, die ihr Generationen von Männern angetan haben. Agnes funktioniert dabei als eine ausführende Kraft, als Personifizierung des Dschungels. Und gleichzeitig ist sie auch Symbol für das Land, das von den Kolonialmächten geschändet wurde. Sie haben die neue Welt geplündert und dann geschwächt sich selbst überlassen. Genauso wenig wie sich „Eroberer“ und Indigene verstehen konnten, ist auch keine Kommunikation auf Augenhöhe zwischen den Figuren im Film möglich.

    Die Kautschuk-Ernter gehen einer nach dem anderen an Agnes und dem geschundenen Dschungel zugrunde.

    Der Film lässt verschiedene Lesarten zu, darunter auch die, dass die Figur der Agnes nur eine Fantasie der Männer sein könnte – vielleicht als Erscheinung in ihrem Delirium. Und tatsächlich fühlt sich der ganze Film an wie ein Fiebertraum. Dazu passen das satte, die Bilder dominierende Grün in alle seinen Facetten genauso wie die schwindelerregenden Einstellungen, wenn die Männer bei ihrer Arbeit hoch in den Bäumen herumklettern. Immer spürbar ist zudem die erdrückende Hitze, denen die Figuren ausgesetzt sind, und eine fast schon hypnotische Wirkung geht vom Geräusch aus, das die Männer beim Kauen des von den Bäumen gewonnenen Gummis machen – zumal dieser Effekt durch die dissonante Musikunterlegung sogar noch verstärkt wird.

    Fazit: Yulene Olaizola evoziert in „Tragic Jungle“ irgendwo zwischen Abenteuer-Drama und Geister-Thriller eine surreale Stimmung, der die lose Handlung sowie die nicht immer überzeugenden schauspielerischen Leistungen der mehrheitlichen Laiendarsteller klar untergeordnet sind. So gelingt der mexikanischen Regisseurin ein ungewöhnliches Werk (erst recht für ein Netflix Original), das das sich einfachen Interpretationen entzieht, eine faszinierend-bedrohliche Szenerie schafft und viel Raum für eigene Assoziationen bietet.

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