Viel Geballer und Geprügel, aber es fehlt die brutale Kreativität
Von Sidney ScheringNur mit einer Handvoll an Filmen und einer Serie hat es Regisseur Gareth Evans zu stattlichem Ruhm im Bereich Gewaltinszenierung gebracht. Insbesondere seine brachiale „The Raid“-Reihe genießt unter Fans blutiger, kompromissloser FSK-18-Action großes Ansehen. Entsprechend groß war die Vorfreude, als es hieß, dass Evans im Rahmen seines Netflix-Deals eine mit „Venom“-Star Tom Hardy besetzte Hommage an Hong-Kong-Polizeireißer wie John Woos Action-Kultklassiker „A Better Tomorrow“ plant.
Aus der Vorfreude wurde jedoch eine Geduldsprobe: Im Oktober 2021, rund ein halbes Jahr nach der offiziellen Vorankündigung des Films, endeten in Wales die „Havoc“-Dreharbeiten – vorerst. Daraufhin steckte das Projekt in der Postproduktionshölle fest, ehe Evans, diverse Streiks und Terminkonflikte später, im Sommer 2024 Nachdrehs leitete. Nun erblickt „Havoc“ endgültig das Licht der Streaming-Welt – und erinnert trotz langer, harscher Kampfsequenzen und einer komprimierten Story daran, dass nicht alles rund wird, nur weil es lange währt.
Weihnachten steht vor der Tür: Walker (Tom Hardy) ist ein korrupter, opportunistischer Polizist unter vielen und halbherzig dabei, Geschenke für seine Tochter zu kaufen. Doch wenige Straßen weiter geht ein Drogendeal brutal schief, wodurch sich eine fatale Kettenreaktion in Gang setzt: Ein Cop wird lebensbedrohlich verletzt, verfeindeten Fraktionen der Unterwelt reißt der Geduldsfaden und der bigotte Politiker Lawrence Beaumont (Forest Whitaker) muss um das Leben seines Sohnes sowie sein eigenes Saubermann-Image bangen.
Der bislang nach allen erdenklichen Seiten hin buckelnde Walker befindet sich mitten in diesem von Gewaltbereitschaft, Verzweiflung und Rachedurst befeuerten Interessenskonflikt. Eins wird rasch klar: Aus dieser Lage wird er sich nicht lavieren können, ohne sich zu irgendeiner Seite zu bekennen...
Gareth Evans, der sowohl für die Regie als auch das Drehbuch verantwortlich zeichnet, kehrt mit „Havoc“ in einer Hinsicht zum Erfolgsrezept seines Durchbruchs „The Raid“ zurück: Der Brutalo-Actioner erzählte stringent von einer Razzia, in deren Zuge sich die Helden durch ein Hochhaus schießen, hauen, treten und stechen müssen – keine weiteren Fragen. Die Handlung von „Havoc“ ist nicht derart stringent und reduziert, dennoch stellt sie einen effizienten, massig Trubel gestattenden Alibiplot dar: Walker ist ein schroffer, ungepflegter Bulle – ein Duckmäuser, der jegliche Integrität vermeidet und sich so über lange Zeit hinweg mit allen erdenklichen Übeltätern gut stellt.
Doch nun sind alle verbrecherischen Fraktionen wütend aufeinander, und Walker muss sich verzweifelt durch diesen Wirbel an Gewalteskalation manövrieren, auf dass er am Ende bei der Partei gut dasteht, die die Oberhand behält. Diese Prämisse erlaubt es Evans, allerhand Gefahren auf seinen rückgratlosen Helden loszulassen und Story-Zwischenstationen durch immer neue „Fraktion X taucht auf und legt sich mit Person Z an“-Konstellationen aufzurütteln. Ganz nebenbei erhält Hardy somit eine Steilvorlage, sich wieder einmal als körperlich fitter, verschwitzter Wendehals zu geben – ein Rollentypus, der ihn wahrlich nicht herausfordert, ihm aber gut von der Hand geht.
Jedoch hat es Evans in einer anderen, entscheidenden Hinsicht mit der Reduktion übertrieben: Es fehlt sämtlichen Figuren an Profil. Das ist zu verschmerzen, wenn die meisten von ihnen nur wandelndes Kanonenfutter wie in „The Raid“ sind. In „Havoc“ dagegen schadet es der Spannungskurve enorm, wenn etwa „American Born Chinese“-Darstellerin Yeo Yann Yann als Vendetta anordnende Matriarchin oder Forest Whitaker als Walker in die Ecke drängender Politiker vollkommen blass bleiben.
Am ehesten sticht noch „Stirb langsam 4.0“-Schurke Timothy Olyphant ins Auge, der den samtig-diabolischen Polizisten Vincent spielt. Dessen Gewissenlosigkeit lässt selbst Walker schwer schlucken – und wenig überraschend zögert er nicht lang, seinem vergleichsweise heroischen Kollegen überheblich lächelnd die Hölle heiß zu machen.
Aber selbst Olyphant spielt nicht so entfesselt auf, wie wir es von dem „Justified“-Star schon gesehen haben. Es wirkt, als hätte Evans ihn bloß an der kurzen Leine gelassen, weshalb Vincent letztlich eher eine beiläufige Nervensäge als eine hassenswerte Gefahr darstellt. Da fiebert man gleich deutlich weniger mit, wenn er sich im Kampfgetümmel befindet und sich die Frage aufdrängt, ob er wohl endlich niedergemetzelt wird. Selbst bei der Entwicklung der Handlangerinnen und Handlanger fehlt es an kreativen Funken: Unvergessliche Kämpfer*innen, die mit markantem Look und denkwürdigem Kampfstil frischen Wind mitbringen, sind in „Havoc“ Mangelware.
Das ist man von Evans und seinem „Gangs Of London“-Stuntkoordinator Jude Poyer nicht gewohnt – und es hemmt den perfiden Unterhaltungsfaktor, der von „Havoc“ ausgeht. So kristallisieren sich nämlich schlussendlich lediglich zwei Action-Höhepunkte im gesamten Film heraus. Und die punkten primär durch ihren Exzess hinsichtlich Länge und Feuerkraft: Da wäre zunächst ein die Seherwartungen mit mehreren vermeintlichen Schlusspunkten triezender Kampfmarathon in einem Nachtclub, in dem sich diverse verfeindete Gruppen und unschuldig ins Chaos gezerrte Individuen kreuzen – was in Bleihagel, Blutvergießen und vereinzelten Organ-Glibber mündet.
So sehr Evans' herbe Inszenierung und die bewegte Dramaturgie dieser unberechenbar verlaufenden Sequenz auch punkten, einen Wermutstropfen gibt es: Die Nahkampf-Choreografie ist erstaunlich monoton. Unter anderem wird mit einem Hackebeil, einem Stahlrohr und einem Sektkübel auf Leute eingedroschen – und dazwischen besteht kaum ein erwähnenswerter Unterschied! Die Opfer dieser Attacken schmeißt es in nahezu identischen Bewegungsabläufen davon, während Digitalblut und Wackelkamera allerlei Bildfläche kaschieren. Den Findungsreichtum und die schmerzliche Konsequenz, die die Wahl der Waffen etwa in „The Raid 2“ mit sich brachte, sucht man hier vergebens.
Die zweite Highlight-Passage von „Havoc“ spielt in einer abgeschiedenen Hütte – und ist dramaturgisch nicht derart ausgefeilt, besticht allerdings mit kreativerem Waffengebrauch und einfallsreicheren, schmerzhafteren Kills. Hier mischt zudem MMA-Größe Michelle Waterson als zielstrebige Killerin ordentlich mit und liefert sich einen schonungslosen, ausgefeilt choreografierten Kampf mit Hardy. Dabei spielt Evans seine inszenatorischen Stärken voll aus. Das komplette Gegenteil davon sind diverse Großstadt-Nachtsequenzen: Egal ob Verfolgungsjagd, motorisierter Raubüberfall oder simple Übergangsszene – sie alle liegen fernab von der dreckig-schweren Ästhetik des restlichen Films und erinnern mit glänzenden Oberflächen, federleicht anmutenden Autos und frei schwebender Kamera stattdessen an „Need For Speed“-Videospiele. Hier zeigen sich dann wahrscheinlich doch die Produktionstrubel-Nachwehen, die Evans nicht niederringen konnte.
Fazit: Gewaltspezialist Gareth Evans verneigt sich vor einem Action-Subgenre, das ihn massiv beeinflusste – und wird ihm nur zur Hälfte gerecht: Hinsichtlich Digitalblut und Dauerfeuer liefert der herbe Cop-Actionthriller „Havoc“, was Fans erwarten – doch es fehlt der kreative Wahnsinn, der Evans' frühere Werke auszeichnete.