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    The Inspection
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    The Inspection

    Ein Film voller Widersprüche – und das ist auch gut so!

    Von Jochen Werner

    The Inspection“ beginnt mit einem schmerzhaften Wiedersehen. Der junge Afroamerikaner Ellis French (Jeremy Pope) klopft an der Tür seiner Mutter Inez (Gabrielle Union), doch sie lässt ihn zunächst nicht in die Wohnung. Er reicht ihr einen kärglichen Blumenstrauß durch den Türspalt, sie drückt ihm eine Handvoll Briefe in die Hand. Als er die Herausgabe seiner Geburtsurkunde erbittet, schleudert ihm Inez nur ein harsches „Warum?“ entgegen. „Ich werde ein Marine“, entgegnet Ellis, gar nicht harsch, sondern aller brutalen Abweisung zum Trotz mit verblüffend weicher Stimme.

    Die Geschichte von Ellis French ist die persönliche Lebensgeschichte des Regisseurs von „The Inspection“. Mit 16 Jahren wurde Elegance Bratton – wie so viele queere Jugendliche – von seiner alleinerziehenden Mutter aufgrund seiner Homosexualität vor die Tür gesetzt. Von diesem Tag an lebte Bratton ein Jahrzehnt lang auf der Straße – unter vielen anderen queeren obdachlosen Jugendlichen am New Yorker Christopher Street Pier, ganz in der Nähe des Stonewall Inn, in dem 1969 jener Aufstand begann, der zur Initialzündung der LGBT-Bewegung wurde und der alljährlich auf der ganzen Welt in Form der Christopher Street Days zelebriert wird.

    Der längere Zeit obdachlose Ellis French (Jeremy Pope) sieht das Militär als seine einzige Chance, doch noch einen sozialen Aufstieg zu schaffen ...

    Den jungen Menschen, die heute am Christopher Street Pier leben, die dort eine Heimat und eine Wahlfamilie suchen, hat Bratton bereits 2019 mit „Pier Kids“ einen eindringlichen, berührenden Dokumentarfilm gewidmet. Mit „The Inspection“ wechselt er nun zum narrativen Spielfilm über, ohne jedoch die eigene Autobiografie als Grundlage seines Erzählens aus den Augen zu verlieren. Ebenso wie Ellis verpflichtete sich auch Bratton mit Mitte 20 zur militärischen Ausbildung bei den Marines – inmitten des Zeitalters der „Don’t Ask Don’t Tell“-Politik bei den amerikanischen Streitkräften.

    „Don’t Ask Don’t Tell“ war 1993 ein Kompromiss zwischen den konservativen Strömungen im Kongress und den Streitkräften sowie Präsident Bill Clinton, der den Ausschluss Homosexueller aus dem US-Militär zwar beenden wollte, aber mit einem entsprechenden Gesetzesentwurf gescheitert war. Die neue Politik verbot es Vorgesetzten, nach der sexuellen Orientierung Untergebener zu fragen, aber auch den Soldaten selbst, offen homosexuell zu leben – ein jahrzehntelanges, in juristische Praxis gegossenes Versteckspiel begann.

    Täglich durch die Hölle gehen

    Dass es zumindest mit dem „Don’t Ask“ wohl nie so recht geklappt hat in der Männerdomäne Militär, daran lässt „The Inspection“ wenig Zweifel. Bei keinem rituellen Angeschrienwerden im Boot Camp darf hier die Frage fehlen, ob der besagte Rekrut zufällig ein Homosexueller sei – und als Ellis sich beim Gruppenduschen ein wenig zu sehr in violetten Darkroomfantasien verliert und von einer unwillkürlichen Erektion geoutet wird, wird er brutal zusammengeschlagen. Die Diskriminierung vonseiten der Kameraden wie der Ausbilder setzt sich auch nach dieser ersten Eskalation ungebrochen fort – und doch gibt Ellis nicht auf, sondern geht weiter durch die Hölle, die ihm dort tagtäglich bereitet wird.

    „The Inspection“ ist ein verstörender Film, aber nicht unbedingt immer aus den auf der Hand liegenden Gründen. Denn obgleich die Diskriminierungen und Demütigungen, mit denen Ellis während der ohnehin brutalen Ausbildung bei den Marines immer wieder konfrontiert wird, völlig ungeschönt auserzählt werden, weigert sich Bratton im selben Moment, die militärische Organisation, aus der sie hervorgehen, grundsätzlich zu verdammen. Die klassische Hollywood-Erzählung vom Militär, das aus Jugendlichen ohne Ziel, Hoffnung und Zukunft echte Männer macht, bleibt aller ertragenen Homophobie zum Trotz im Kern enthalten – und gerade das macht diesen Film zu einer ziemlich ambivalenten Seherfahrung.

    … selbst wenn er für seinen Amerikanischen Traum auch allerlei eigentlich nicht zu rechtfertigende Demütigungen über sich ergehen lassen muss.

    Zudem spiegelt sich dieses Hin-und-Hergerissen-Sein auch im Verhältnis von Ellis zu seiner Mutter wider. Denn ebenso wie der Soldat den Folterern unter seinen Ausbildern und Kameraden zu vergeben scheint, ohne dass diese jemals um Verzeihung gebeten oder Reue gezeigt hätten, sucht der Sohn auch immer wieder die Nähe seiner toxischen Mutter, nur um sich dann immer wieder aufs Neue demütigen zu lassen. Es wirkt fast wie ein Betteln um immer neue Demütigungen, die der Protagonist wieder und wieder devot über sich ergehen lässt, ohne sich je wirklich lösen zu können oder wollen.

    In der Schilderung des militaristischen Systems schimmert darin durchaus eine doppelbödige Systemkritik durch, ist sich Bratton doch ebenso wie sein Alter Ego Ellis sehr bewusst darüber, was hier der Deal ist: Das Militär ist – gerade in Zeiten des Zweiten Irakkriegs – auf die Perspektivlosigkeit der jungen Männer angewiesen, die sich verpflichten und gegebenenfalls verheizen lassen, gerade weil ihnen keine alternativen Wege des sozialen Aufstiegs offenstehen. Auf der anderen Seite bietet sich den Männern hier eben diese einzige Chance doch.

    Amerikanischer Traum!?

    Brattons Geschichte erinnert, wenn auch auf eine pervertierte Weise, an den Amerikanischen Traum: Zieh dich raus aus Armut und Elend, allen Widerständen zum Trotz, und erkämpfe dir den Respekt, der dir eigentlich auch zustünde, ohne zuvor Folter und Diskriminierung ertragen zu müssen. So läuft die Welt aber nicht, insbesondere nicht, wenn man ein schwuler, junger, mittelloser, Schwarzer Mann ist – und dass „The Inspection“ diese harschen Wirklichkeiten nicht ausblendet, muss man ihm hoch anrechnen. Dennoch irritiert die scheinbar unerschöpfliche Versöhnungsbereitschaft von Ellis/Bratton – und mitunter fragt man sich, warum dieser Protagonist angesichts all des Unrechts, das ihm zuteilwird, nicht wütender ist. Zumindest mal gegenüber der ungebrochenen Kälte und Brutalität seiner Mutter Inez, die ihn bis zuletzt verstößt.

    Überschattet wird dieser Erzählstrang von einer persönlichen Tragödie im wahren Leben: Kurz bevor „The Inspection“ in Produktion ging, wurde Brattons Mutter, mit der er sich tatsächlich nie ausgesöhnt hat, in einem Familienstreit von seiner Halbschwester getötet. „The Inspection“ ist ihr gewidmet – und nicht nur das macht ihn zu einem emotional seltsam widersprüchlichen, ambivalenten Film. Man ist sich schlichtweg ziemlich unsicher, welche Haltung man zu den komplizierten systemischen und familiären Verstrickungen und Beziehungen einnehmen soll, die Elegance Bratton uns zuvor anderthalb Stunden lang skizziert hat. Selbstverständlich kann man das – auch als ein Gegenmodell zu einem Themen- und Haltungskino, in dem die Dinge nicht selten etwas zu klar und zu unterkomplex präsentiert erscheinen – auch als eine Stärke bewerten. Selbst wenn das nicht unbedingt bedeutet, dass man sich mit „The Inspection“ weniger unwohl fühlt.

    Fazit: „The Inspection“ erzählt eigentlich eine geradlinige, autobiografische Geschichte – tut dies jedoch auf eine derart ambivalente Art, dass man nicht umhinkommt, dem Film auch in seinen problematischeren Aspekten Respekt zu zollen. Gesellschaft und Familie, Diskriminierung und Selbstbehauptung, all das funktioniert komplex und oft zutiefst individuell – und ein Film, der dem Rechnung trägt, sollte ähnlich komplex und auch widersprüchlich sein. Das ist „The Inspection“ definitiv gelungen.

     

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