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    Seneca
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Seneca

    So trieben es die alten Römer

    Von Gaby Sikorski

    Seneca ... Moment mal, das ist jetzt aber echt lange her. War das nicht einer von diesen alten Römern? Stimmt! Seneca war einer der bekannteren römischen Philosophen und Rhetoriker. Sein berühmtestes Zitat ist vermutlich „Non vitae sed scholae discimus“, was übersetzt so viel wie „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“. Ein Satz, der jetzt möglicherweise Irritationen hervorruft, weil er in der umgekehrten Version viel bekannter wurde – und die gehört heute zur Grundbildungsausrüstung für höhere Schulabschlüsse. Tatsächlich aber hatte Seneca, als er das schrieb, keine ungezogenen Kinder im Sinn, die er zum Lernen motivieren wollte. Stattdessen kritisierte er das römische Bildungssystem, das ihm lebensfremd und realitätsfern erschien.

    Ein Thema, das nach 2000 Jahren kaum an Aktualität verloren hat. Das gilt auch für eine ganze Reihe anderer philosophischer Probleme, um nicht zu sagen: für die meisten. Eine Auseinandersetzung mit antiken Fragestellungen erscheint also durchaus akzeptabel, ließen sich daraus doch möglicherweise Schlussfolgerungen für die Gegenwart ziehen. Aus der Geschichte lernen ... warum eigentlich nicht? In Robert SchwentkesSeneca“ geht es gleich um ein ganzes Bündel von Themen, deren Bedeutung über Jahrtausende erhalten geblieben ist. Eine kleine Auswahl: Macht und Machtmissbrauch, Opportunismus, gutes und mieses Marketing sowie der korrekte Umgang mit Despoten.

    Seneca (John Malkovich) versucht als Mentor von Kaisers Nero (Tom Xander) Einfluss auf die Geschicke des Reiches zu nehmen.

    Im Mittelpunkt der Handlung stehen die letzten Tage des Philosophen Seneca (John Malkovich), der als Mentor des Kaisers Nero (Tom Xander) einigen Einfluss auf dessen Politik hatte. Unglücklicherweise entwickelte sich Nero nach ersten ruhigen Regierungsjahren in eine ganz andere Richtung, als Seneca und mit ihm die gesamte römische Upperclass gehofft hatte. Unter anderem entledigte sich Nero mit unfeinen Mitteln seiner eigenen Mutter, die ihn einst auf den Kaiserthron gebracht hatte, und ließ bald darauf auch seine Frau Octavia ebenso wie eine Reihe von Mitgliedern des Senats ermorden, die er der Verschwörung bezichtigte. Auch Seneca wurde ein Opfer des unberechenbaren Herrschers: Nero zwang ihn zum Selbstmord, der erst nach mehreren Versuchen gelang.

    Aus dieser Story einen Film zu machen, ist ein durchaus ehrgeiziges Unterfangen. Nicht nur wegen der diversen Herausforderungen eines antiken Stoffes, sondern auch wegen der widersprüchlichen Persönlichkeit Senecas, der als Philosoph zwar Mäßigung predigte, aber andererseits einer der reichsten Männer Roms war. Zu Beginn stellt ein allwissender Erzähler Seneca und seinen jungen Schützling Nero mit unverhohlener Ironie vor. Seneca ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere, das personifizierte römische Establishment, als Redenschreiber und als Ghostwriter. Er sagt und schreibt genau das, was seine reichen Kunden hören wollen – und er versucht den jungen Nero, ein labiles, manisches Kind, in seinem Sinne zu beeinflussen.

    Mehr Sprechmaschine als Sprücheklopfer

    Im Gegensatz dazu steht der alte, gescheiterte Seneca einige Jahre später. John Malkovich spielt den Philosophen als durch und durch ambivalenten Charakter: ein charmanter, wortgewandter Redner, der sich immer mehr zum Dauerschwätzer entwickelt. Er redet praktisch ununterbrochen, wobei Malkovich offenlässt, ob aus Gewohnheit oder Verzweiflung. Sein Seneca ist nicht nur ein Sprücheklopfer, er ist eine Sprechmaschine. Wirkt er zu Beginn im Dialog mit dem jungen Nero noch wie ein verständnisvoller Lehrer, der seinem Zögling vieles durchgehen lässt, so wird er später zum drauflos schwadronierenden Dampfplauderer, dessen Opportunismus immer mehr Richtung Speichelleckerei geht.

    Irgendwann ist Senecas Stern verblasst, der Tyrann Nero, im Rausch der Macht, hört nicht mehr auf ihn oder ist seiner überdrüssig geworden (oder auch beides auf einmal). Ob Seneca mehr von Neros Taten oder von seinem eigenen Handeln angeekelt ist, bleibt unklar. Jedenfalls ist er so frustriert, dass er zum Ausgleich blutrünstige Tragödien schreibt, die er vor seinem dekadenten Freundeskreis aufführt. John Malkovich entwickelt Seneca vom sympathischen Schwerintellektuellen, der seine Klugheit dazu nutzt, um Nero an der Macht und sich selbst am Leben zu erhalten, zu einer lächerlichen Figur, die den eigenen Untergang kommentiert. Zum Ende hin spielt der „Con Air“-Bösewicht ihn als Mann, der gleich mehrfach versagt hat: als Politiker, als Intellektueller, als Philosoph. Und dann klappt es nicht einmal mit dem Selbstmord...

    Mit Seneca nimmt es kein gutes Ende! Nicht einmal mit dem Selbstmord will es so richtig funktionieren…

    In seinen besten Momenten ist „Seneca“ eine absurde existentialistische Komödie, tiefschwarz und voller Gemeinheiten, eine ironische Parabel, irgendwo zwischen Monty Python, Luis Buñuel und Franz Kafka. Aber leider gibt es nicht nur beste Momente, sondern besonders im zweiten Teil auch spürbare Längen. Selbstverständlich ist es immer ein Vergnügen, John Malkovich bei der Arbeit zuzuschauen, doch hier wird er irgendwann so allesbeherrschend, dass seine Schauspielkolleg*innen zu Stichwortgeber*innen degradiert werden. Da verblasst Geraldine Chaplin ebenso wie Samuel Finzi oder Alexander Fehling. Allenfalls Lilith Stangenberg als Senecas unglückliche, junge Gattin Paulina und Tom Xander, der den Nero als blutrünstigen, machtbesessenen Knalldeppen spielt, bekommen ein wenig mehr Gewicht.

    Was zu Beginn unterhaltsam und witzig ist – Seneca spricht Nero mit „Mr. President“ an, und die Dialoge sind gelegentlich von exquisiter Gemeinheit – entwickelt sich immer mehr in Richtung One-Man-Show – und wird dabei vermutlich in voller Absicht immer quälender. Dennoch ragt der Film aus der Masse der Durchschnittsfilme heraus. Zunächst einmal hat Robert Schwentke ein originelles Setting erdacht. Er kombiniert echte und gebaute Ruinen, moderne und antike Gebäude zu sehenswerten Tableaus, in denen sich die Darsteller in kreativ gestalteten Kostümen bewegen.

    Zum Glück kein bloßes Bildungsbürgerkino

    Entgegen den Erwartungen also ist „Seneca“ also zunächst einmal kein Bauchgepinsel für bildungsbeflissene Fans der Altphilologie, ganz im Gegenteil: Robert Schwentke („Flightplan“) modernisiert nicht nur die Sprache und die Ausstattung – mit einigen witzigen Ideen, wie das Seneca-Merchandising für die reiche Kundschaft. Zusätzlich schafft Schwentke, der nicht nur die Regie übernahm, sondern gemeinsam mit Matthew Wilder auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, eine Atmosphäre zwischen Dekadenz und Schwermut, die immer einen ironischen Unterton hat. Die fantasievolle Gestaltung lehnt sich an antike Traditionen an, ohne den Versuch zu unternehmen, sie 1:1 abzubilden. Und das ist ziemlich gut.

    Fazit: Kein Monumental- oder Kostümfilm, sondern ein antiker Stoff im zeitlos künstlerischen Gewand mit aktuellen Anspielungen über das Versagen der Vernunft angesichts der grausamen Realität. Eine Parabel über Macht und Machtmissbrauch als böse Komödie: sophisticated, ein bisschen verschwurbelt und etwas zu lang. So wird „Seneca“ trotz des zeitlichen Rücksprungs um 2000 Jahre zur thematischen Weiterführung von „Der Hauptmann“, in dem sich Robert Schwentke 2017 ebenfalls schon intensiv mit Machtgier und Opportunismus beschäftigt hat.

    Wir haben „Seneca“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen.

     

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