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    My New Friends
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    My New Friends

    Zwei der ganz Großen des französischen Kinos nach 45 Jahren wiedervereint

    Von Kamil Moll

    Im Kino von André Téchiné lässt sich anhand von Schauspieler*innen dem Voranschreiten der Zeit zuschauen. In seinem Werk, das mittlerweile weit über ein halbes Jahrhundert umfasst, tauchen über die Dekaden verstreut immer wieder dieselben Darsteller*innen auf, unter veränderten Vorzeichen, in immer wieder neuen Rollenvariationen. Isabelle Huppert spielte zuletzt 1979 unter seiner Regie eine Autorin im Biopic „Die Schwestern Brontë“, einem Film, der damals einen frühen kommerziellen Höhepunkt für beide markierte. In der ersten Szene von „My New Friends“ ist sie als Lucie zunächst nur zu hören, nicht zu sehen. Inmitten der Stimmen anderer demonstrierender Polizisten, mit denen sie gemeinsam für bessere Schutzmaßnahmen beim Dienst protestiert, hört man sofort den wundersam speziellen Ton der Schauspielerin heraus: aufmerksam, etwas wirsch, mit einem präzisen Schneid artikuliert. Dann wird sie von der Handkamera erfasst, sie steht mit Transparent inmitten der Demonstrierenden – aufrecht, aber in sich gekehrt.

    Lucie lebt in Perpignan, einem kleinen Ort im Südosten Frankreichs. Vor einigen Jahren starb ihr Partner Slimane (Moustapha Mbengue) und an dessen Suizid sie seitdem der Polizei sowie der Polizeigewerkschaft die Schuld gibt. Deswegen war Lucie lange in psychologischer Behandlung und arbeitet nun, zu Beginn des Films, nicht mehr im aktiv ermittelnden, sondern nur noch im technischen Dienst der Forensik – eine Art stiller Degradierung nach einer langen Polizeilaufbahn. Slimane glaubte an spiritistische Wiedergänger, und etwas von dieser Überzeugung scheint nach seinem Tod auch bei Lucie geblieben zu sein, denn wenn sie abends nach Hause kommt, sitzt sein Geist am Klavier und spielt für sie, raucht Zigaretten, umarmt und küsst sie.

    Roger Arpajou
    Isabelle Huppert arbeitet zum ersten Mal nach 45 (!) Jahren wieder mit André Téchiné zusammen!

    In der Art, wie Téchiné diese übersinnlichen Sequenzen dreht, eine Beziehung nach ihrem Ende mit eleganten, suchenden Kamerabewegungen in kurzen, prägnanten Bilder festhält, lässt sich vieles ablesen über seine Art, Figuren in emotionalen Notzuständen wahrzunehmen und zu zeigen: mit involviertem Interesse, aber aus gebotener Distanz. Nähe schaffen können nur andere Personen, und die erscheinen in Lucies Leben als neue Nachbarn – ein junges Paar mit Tochter, das im Haus nebenan einzieht. Zur Mutter Julia (die großartige Hafsia Herzi) entwickelt Lucie schnell eine von Neugier und Verständnis geprägte Beziehung. Beim Zusammenspiel der beiden zeigt Téchiné mal wieder, was für ein großer Meister er im Inszenieren von Schauspielkunst ist.

    Insbesondere Huppert („Elle“) legt ihre Person mehrdeutig als jemanden an, der durch all die Wunden der Vergangenheit verschlossen ist, sich aber danach sehnt, sich wieder öffnen zu können. Wie sich ihre versteinerte Miene innerhalb von Sekunden wandeln kann und sie in ein überfallartig lautes Lachen ausbricht, gehört sicherlich zu ihren schönsten Performances nicht nur der letzten Jahre. Anders entwickelt sich hingegen die Dynamik zu Julias Mann Yann (Nahuel Pérez Biscayart), der ein maßgebliches Mitglied des linksautonomen Schwarzen Blocks ist und wegen gewalttätiger Übergriffe gegen Polizisten bei sogenannten A.C.A.B.-Protesten („All cops are bastards“, eine gängige Parole von Autonomen) zu Hausarrest verurteilt wurde. Ihm gegenüber gibt Lucie zunächst vor, eine Angestellte in der Sozialfürsorge zu sein.

    Roger Arpajou
    Lucie demonstriert für die Rechte der Polizei – und lässt sich doch auf die Bekanntschaft mit ihrem linksautonomen Nachbarn ein.

    Téchiné, der kein soziologisierender und erst recht kein sozialdramatischer Regisseur ist, erzählt insbesondere die Begegnung mit Yann nicht als durch bloße Plot Points forcierte Annäherung, sondern mit einer eleganten Gelassenheit, so als sei er nicht unbedingt an einem konkreten Konflikt interessiert. Im Mittelpunkt des Films stehen die Augenblicke, die Lucie mit ihren Nachbarn verbringt, wobei der Fokus innerhalb der Geschichte sanft, geradezu unmerklich von einer Person zur anderen wechselt, so als strukturierten diese verdichteten Momente den Film wie mit leichter Hand angeordnete Kapitel – bis sie zum Schluss unwiederbringlich enden. In der langen Filmografie Téchinés ist „My New Friends“ ein weiterer, nur scheinbar kleiner Höhepunkt, der in seiner so traumwandlerisch sorgfältigen wie eigensinnig versponnenen Art aufs Neue beweist, dass der Regisseur weiterhin einer der interessantesten Filmemacher des französischen Gegenwartskinos bleibt.

    Fazit: Mit „My New Friends“ beweist André Téchiné mal wieder souverän, wie wenig er an den Konventionen des Themenkinos interessiert ist. Die Begegnung zwischen einer langgedienten Polizistin und der Familie eines linksautonomen Aktivisten erzählt er in eleganten Bildern als eine empfindsame Momentaufnahme und nicht als überdramatisiert ausgehandelten Konflikt.

    Wir haben „My New Friends“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er in der Sektion Panorama gezeigt wurde.

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