Monsieur Aznavour
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
3,5
gut
Monsieur Aznavour

Mit Reibeisenstimme zum Weltruhm

Von Gaby Sikorski

Wahrscheinlich ist Charles Aznavour bis heute der weltweit bekannteste französische Chansonnier. In seiner Karriere, die sich über mehr als 70 Jahre erstreckte, schrieb er mehr als 1.000 Chansons, zudem spielte er in zahlreichen Filmen mit, unter anderem als Hauptdarsteller in „Schießen Sie auf den Pianisten“ von François Truffaut. Er wurde zwar in Frankreich geboren, doch als Sohn einer armenischen Flüchtlingsfamilie blieb er dem Heimatland seiner Eltern lebenslang verbunden, einst vertrat er Armenien sogar bei den Vereinten Nationen. Charles Aznavour war dabei ein begeisterter Performer, der auch im hohen Alter noch Live-Konzerte gab. Seinen 90. Geburtstag feierte er nicht etwa mit Freund*innen und Familie, stattdessen stand er in Berlin auf der Bühne der O2-Arena. Zwar starb er 2018 mit 94 Jahren – aber an der Entstehung des Biopics „Monsieur Aznavour“ über sein Leben und seine Chansons hat er bis dahin trotzdem noch aktiv mitgewirkt.

Seine Geschichte beginnt im Pariser Künstlerviertel Quartier Latin, wo die Eltern eine schlecht gehende Bar betreiben, in der sich die armenische Community mit jüdischen Einwanderer*innen und den in Frankreich ansässigen Manusch (Sinti) trifft. Charles (Norvan Avedissian) wächst gemeinsam mit seiner Schwester Aïda (Aaliyah Kerekdjian) in einer liebevollen, aber sehr ärmlichen Umgebung auf. Die Eltern sind als armenische Flüchtlinge dem Genozid nur knapp entkommen. Als kleiner Junge von sieben Jahren bekommt Charles die Chance, für ein bisschen Geld eine Minirolle am Theater Champs Elysee zu spielen. Ohne jede Ahnung, was auf ihn zukommt, nimmt er das Angebot an. Sein erster Satz auf der Bühne lautet: „Ja, ich bin angekommen.“

Nur auf der Bühne fühlt sich Charles Aznavour (Tahar Rahim) hundertprozentig wohl! Weltkino Filmverleih
Nur auf der Bühne fühlt sich Charles Aznavour (Tahar Rahim) hundertprozentig wohl!

Während der deutschen Besetzung singt der inzwischen fast erwachsene Charles (nun: Tahar Rahim) vor Wehrmachtssoldaten und unterstützt heimlich doch den Widerstand gegen die Nazis. Für seine Gesangsjobs findet er einen Partner: Pierre Roche (Bastien Bouillon), der sein bester Freund wird. Die beiden treten als Duett mit witzigen Couplets in Tanzlokalen und Bars auf. Und dann begegnen sie Édith Piaf (Marie-Julie Baup)…

Marie-Julie Baup („À la Carte! - Freiheit geht durch den Magen“) spielt sie mit sehr viel Feingefühl und Elan als großzügige, scharfzüngige Diva mit tyrannischen Zügen. Sie nimmt den unerfahrenen Charles unter ihre Fittiche. Die berühmte Sängerin ist von Charles‘ rauer und kratziger Stimme angetan – er hört sich eigentlich immer an wie jemand, der eine schlimme Nacht hinter sich hat: Seine Reibeisenstimme klingt irgendwie sandig und rostig – ein paar Reißnägel könnten auch mit dabei sein. Diese Stimme und dazu seine romantischen und gleichzeitig melancholischen Texte haben einen ganz besonderen Zauber, den Édith Piaf mit als erste erkannt hat.

Rostiges Reibeisen mit Reißnägeln

Im Film singt Charles Aznavour seine Chansons selbst. Tahar Rahim („Madame Web“) hat zwar Tanz- und Gesangsunterricht für die Rolle genommen, aber er versucht gar nicht erst, mit Aznavours Stimme zu singen. Mit einem wirkungsvollen Make-up gelingt ihm optisch sogar eine gewisse Ähnlichkeit, auch in seinen Bewegungen und in seiner Sprechweise, doch beinahe noch wichtiger: Tahar Rahim gibt dem großen Künstler genau die richtige Portion Mut – und manchmal Übermut –, gewürzt mit einer unterschwellig immer vorhandenen, spürbaren Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit. Aus diesen Kontrasten, aus der Energie eines zielstrebigen, couragierten Vollblutkünstlers, der um seine Schwächen weiß, aber um keinen Preis scheitern will, zieht Tahar Rahim sehr viel Kraft.

Das wird in seinen späteren Jahren sogar noch deutlicher, am stärksten nach dem Verlust seines Sohnes Patrick. Da ist Charles Aznavour schon ein Weltstar und hat gerade seine dritte Ehefrau Ulla (Petra Silander) geheiratet. Patricks Tod droht ihn in einen Abgrund zu ziehen. Und wie immer versucht er sich mit Arbeit zu retten: die Bühne als Glücksdroge, die Musik als Medizin. Eigentlich wollte Charles Aznavour, dass sein Biopic mit den ersten Erfolgen enden sollte. Doch es gab dabei ein Problem: Alle seine großen Chansons, die ihm Weltruhm brachten, sind erst später entstanden – unverwechselbare Titel wie „She“ oder „Comme Ils Disent“, und sie sollten natürlich in die Handlung eingebettet werden. So entschlossen sich die beiden Regisseure Grand Corps Malade und Mehdi Idir, die auch als Autoren schon längere Zeit zusammenarbeiten („Lieber leben“), tatsächlich das gesamte Leben von Charles Aznavour in ihrem Film unterzubringen.

Alkohol und Frauen war Charles Aznavour nie abgeneigt. Weltkino Filmverleih
Alkohol und Frauen war Charles Aznavour nie abgeneigt.

Ein ehrgeiziges Unterfangen. Doch dieses Konzept ist großenteils gelungen, wobei die zweite Hälfte des mehr als 130 Minuten langen Films inhaltlich hinter dem ersten Teil zurückbleibt. Es passiert einfach viel mehr zu Beginn – wie sich Charles Aznavour mühsam von ganz unten nach ganz oben kämpft, ist eben deutlich interessanter als die Erfolge. Die stimmungsvollen Bilder aus dem Paris der armen Leute in den 1930er und 1940er Jahren sind dabei wirklich sehr gelungen. Untermalt von seiner Musik dokumentieren sie zwischendurch auch in bewegenden Schwarzweiß-Szenen den Kampf des armenischen Volkes gegen seine Auslöschung und das Elend der Flüchtlinge. Aber eben auch das Glück zu leben. Zwischen diesen beiden Extremen bewegte sich auch Charles Aznavours Leben als Kind und junger Mann.

Das Tempo des Films zieht nach der Begegnung mit Édith Piaf deutlich an: Manchmal wirkt die Handlung beinahe gehetzt, aber merkwürdigerweise passt das ganz gut zum Leben eines Künstlers, der selbst immer in Bewegung ist. Nachdem er sich aufgrund der Ratschläge von Édith Piaf entschieden hat, für seine Karriere alles andere aufzugeben – sogar seine (erste) Frau, das gemeinsame Kind und seinen besten Freund Jean Roche –, wird Charles Aznavour endgültig zum besessenen Arbeiter. Er hat es schwer, sich durchzusetzen: Die Kritiken sind teilweise vernichtend, er wird regelrecht gemobbt, nicht nur aufgrund seiner armenischen Herkunft, sondern auch wegen seiner ungewöhnlichen Stimme, wegen seiner Körpergröße (1,61 m) und sogar wegen seiner Augenbrauen. Das erinnert fatal an heutige unsägliche Social-Media-Debatten.

My Way oder besser Ma Façon

Aber er hat es geschafft, bis an die Spitze – dass er darauf stolz war und manchmal mit seinen Erfolgen geprotzt hat, dass er aber auch niemals vergessen hat, wo seine Wurzeln lagen, zeigt der Film ebenso wie die Schwierigkeiten zu Beginn. Die großen Chansons dienen dabei häufig zur Überbrückung größerer Zeiträume, aber auch zur Vermittlung von atmosphärischen Schwingungen. So ist der erste Teil erfüllt von einer sehr liebevollen, manchmal nostalgischen Stimmung – Charles Aznavour ist hier ein lebenslustiger, aber ziemlich unerfahrener Showman. Auffällig ist, wie vollkommen angstfrei er auftritt. Dieser Mann ist überzeugt von sich, das sagt auch seine Haltung, seine oft abgespreizten Arme, mit denen er sich breiter macht. Er ist für die Bühne geboren, und die Bühne wird für ihn zum zu Hause.

Die Musik bedeutete ihm alles. Diese Botschaft vermittelt das Biopic mit emotionalem Schwung. Über viele Jahre hat Charles Aznavour seine Familie vernachlässigt, um sich der Musik zu widmen, aber auch um ein prächtiges Bohemien-Leben zu führen, bei dem er sich nach Kräften amüsierte. Besonders in seiner Jugend verhielt er sich wie das Klischee eines französischen Künstlers – er war den Frauen (viele) ebenso zugetan wie dem Alkohol (reichlich) und insgesamt dem guten Leben (savoir vivre). Dennoch: Seine Sympathie für die Resistance während der deutschen Besetzung von Paris wird im Film ebenso klar wie sein Engagement für das armenische Volk und für Minderheiten. Er bezog Stellung. In seinem Chanson „Comme Ils Disent“ solidarisierte er sich Anfang der 70er Jahre mit Transvestiten und Schwulen – zu einer Zeit, als es ein Skandal war, dass er das Chanson in der Ich-Form schrieb. Aber auch all das hat ihn nicht davon abgehalten, seinen Weg zu gehen.

Fazit: „Monsieur Aznavour“ zeigt Charles Aznavour in vielen Facetten und ist, wie der Titel schon ahnen lässt, vor allem die Hommage an einen großen Künstler.

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