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    791 km
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    791 km

    Den anderen einfach auch mal zuhören

    Von Jörg Brandes

    791 Kilometer beträgt die Entfernung zwischen München und Hamburg, wenn man sie mit dem Wagen zurücklegt. Das Ensemble der Roadmovie-Komödie „791 km“ musste die Strecke allerdings – trotz des Titels – nicht selbst abfahren. Gedreht wurde statt auf der Autobahn vor allem im Studio. Fällt aber kaum auf. Filmtechnische Tricks erzeugen die Illusion einer vorwiegend nächtlichen Fahrt einmal quer durch die Bundesrepublik. Zusätzliche Außenaufnahmen entstanden in der Umgebung von München und bei Köln, das nun gerade nicht auf der direkten Route zwischen der Bayernmetropole und der Hansestadt liegt. Die Entscheidung für den Drehort dürfte also eher damit zu tun haben, dass in dem Projekt auch Fördergeld aus Nordrhein-Westfalen steckt. Aber das nur am Rande.

    Der Endpunkt der Reise ist ohnehin von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger ist im Falle von Tobi Baumanns „791 km“, wie sich unterwegs die Dynamik innerhalb einer bunt zusammengewürfelten Zwangsgemeinschaft entwickelt. Dank des gut aufgelegten Ensembles und vieler gut geschriebener Dialoge von Drehbuchautor Gernot Gricksch („Das Leben ist nichts für Feiglinge“) sitzt man da über weite Strecken doch gern mit im selben Boot beziehungsweise Taxi.

    Filmwelt
    Taxifahrer Joseph (Joachim Król) wirkt nur zu Beginn wie ein typischer Grantler mit Rechtsdrall – im Verlauf der langen Fahrt lernen wir noch ganz andere Seiten von ihm kennen!

    Im Bahnverkehr geht mal wieder nichts, Herbststurm Herwarth tobt über Deutschland. Am Münchner Hauptbahnhof sind hunderte Reisende gestrandet. Unter ihnen die Alt-68erin Marianne (Iris Berben) sowie das Paar Tiana und Philipp (Nilam Farooq, Ben Münchow), das sich über den unterschiedlichen Umgang mit der Situation mächtig zerstreitet. Sie steht unter Druck, weil sie anderntags einen wichtigen Geschäftstermin in Hamburg hat, er würde lieber die Nacht über in einem Hotelzimmer chillen.

    Dennoch organisiert sich Philipp einen Taxigutschein. Schließlich steigen alle drei in einen Wagen, dessen eingeschaltetes Dachlicht Betriebsbereitschaft signalisiert. Darin sitzt bereits ein Mädchen mit roter Daunenweste (Lena Urzendowsky), das zunächst nichts sagt. Fahrer Joseph (Joachim Król) staunt nicht schlecht, als er zu seinem Auto zurückkommt und es vollbesetzt vorfindet. Das Taxilicht hatte er nur aus Versehen eingeschaltet. Aber da er das Geld gut gebrauchen kann und ohnehin in das nördlich von Hamburg gelegene Bad Bramstedt will, muss niemand wieder aussteigen…

    Ein Road-Movie mit sehr verschiedenen Figuren

    Fünf Personen, fünf komplett unterschiedliche Typen: Die ökobewegte emeritierte Linguistik- und Soziologie-Professorin Marianne mit Hippie-Vergangenheit. Die ehrgeizige Businessfrau Tiana mit Hang zur Selbstoptimierung. Der Physiotherapeutensoftie Philipp mit ausgeprägter Laisser-faire-Haltung. Der grantelnde Taxichauffeur, der sich abgehängt fühlt, weil sich die Welt für ihn viel zu schnell verändert. Und schließlich die naiv erscheinende Susi, die ihr anfängliches Schweigen erst mit den Worten „Ich muss mal“ bricht.

    So prallen im beengten Wageninneren die unterschiedlichsten Lebensentwürfe, Lebensphilosophien und Meinungen aufeinander. Kein Wunder, dass es da lange nicht allzu harmonisch zugeht. Dabei kommt eine Vielzahl von Themen aufs Tapet, von denen einige wie die Klimakleberei oder die Cancel-Culture allerdings nur angerissen werden. Zudem sollte man mit schnellen Zuordnungen vorsichtig sein. Geriert sich der wetternde Joseph zunächst wie ein Wutbürger mit politischem Rechtsdrall, relativiert sich dieser Eindruck alsbald. Er ist vielmehr ein Konservativer, dessen Granteln-Gründe durchaus nachvollziehbar sind.

    Filmwelt
    Gegensätzlicher geht es kaum: Auch Alt-68erin Marianne (Iris Berben) und Businesswoman Tiana (Nilam Farooq) müssen im Taxi miteinander klarkommen.

    Doch das gesellschaftsrelevante Allgemeinpolitische tritt schließlich hinter das Private der Figuren zurück. Jeder der fünf Charaktere hütet ein Geheimnis, das irgendwann ans Licht kommt. Wieso etwa drückt sich Marianne mitunter etwas seltsam aus? Oder warum reagiert Joseph immer so nervös, wenn er ein Blaulicht sieht? Jedenfalls wird viel geredet und viel gestritten. Aber eben auch zugehört und sich mit den Anliegen der anderen auseinandergesetzt. So, wie es eigentlich sein sollte, aber oft nicht ist, wenn man nicht gerade für 791 km auf engstem Raum zusammen eingepfercht ist.

    Das wiederum hat zur Folge, dass sich das Quintett nicht nur räumlich, sondern schließlich auch menschlich näherkommt. Dass dabei ausgerechnet Susi als Katalysator fungiert, erscheint etwas problematisch. Denn damit bürdet Autor Gernot Gricksch seiner mental versehrtesten Figur ziemlich viel auf. Bei so viel Ernsthaftigkeit tut dann auch etwas Humor ganz gut. Der ist hier wohldosiert und wirkt nie aufgesetzt. Einmal gönnt Tobi Baumann sich und uns sogar ein wenig Slapstick. Aber er übertreibt nicht, was angesichts seiner Vergangenheit als Autor und Regisseur verschiedener TV-Comedy-Formate sowie als Regisseur der Edgar-Wallace-Persiflage „Der Wixxer“ freudig überrascht.

    Fazit: Einerseits wirkt der Film mit seiner großen Themenvielfalt etwas überladen, und auch nicht jede Wendung ist direkt nachvollziehbar. Andererseits setzt er mit der Zuhörbereitschaft seines Figurenensembles etwas dem aktuell grassierenden Lagerdenken entgegen – das tut richtig gut.

     

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