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    Thumbsucker - Bleib wie du bist!
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Thumbsucker - Bleib wie du bist!
    Von Claudia Holz

    Nach Spike Jonze und Michel Gondry gibt es erneut die Evolution eines Musikvideo- und Werberegisseurs am internationalen Filmhimmel zu bewundern. Mike Mills hat vor seinem ersten ernstzunehmenden Spielfilm „Thumbsucker“ für Musikacts wie Divine Comedy, Everything But The Girl und Moby gearbeitet und nebenbei noch die Cover von Alben für Air, Sonic Youth und den Beastie Boys entworfen. Die Frage, die sich im Angesicht des toll gefühlvoll und komisch inszenierten Coming-Of-Age-Dramas stellt, ist jedoch nicht, was ein Grafikdesigner im Spielfilmgeschäft treibt, sondern warum er nicht schon viel früher im Regiestuhl Platz genommen hat.

    „Thumbsucker“ hat zunächst einmal alles, was jeden halbwegs filminteressierten Menschen anziehen könnte: Eine umwerfende Inhaltsangabe (17-Jähriger, der sich das Daumenlutschen abgewöhnen möchte) und sowohl etablierte Schauspielgrößen wie Keanu Reeves und Vince Vaughn am Start, als auch talentierte Mimen wie Tilda Swinton und Vincent D’Onofrio. Außerdem trumpft der Film noch mit einem Newcomer in der Titel- und Hauptrolle auf, der vielversprechender nicht sein könnte. Lou Taylor Pucci heißt der 20-jährige Star und überzeugt vor allem mit Vielseitigkeit und Intensität.

    „Thumbsucker“ erzählt die Geschichte eines Teenagers (Lou Taylor Pucci), der noch im High-School-Alter am Daumen lutscht. Während seine Mutter Audrey (Tilda Swinton), die in einer Suchtklinik arbeitet und heimlich in den Schauspieler Matt Schraam (Benjamin Bratt) verliebt ist, Justins Angewohnheit duldet, kann und will sich der Vater Mike (Vincent D’Onofrio) nicht damit abfinden. Als Justins esoterisch angehauchter Zahnarzt Dr. Perry Lyman (Keanu Reeves) zu einer ungewöhnlichen Methode greift und an dem Jungen eine Hypnosetherapie ausprobiert, die ohne gewünschte Wirkung bleibt, möchte Justin nun ebenfalls alles ausprobieren, um endlich „normal“ zu werden. Schließlich wird bei ihm Hyperaktivität diagnostiziert und er bekommt Medikamente, die zwar dazu führen, dass er seinen Daumen ignorieren kann, die ihn allerdings auch in seiner Persönlichkeit verändern. Zwischendrin gibt es noch den Debattierclub auf Tour, Justin verliebt sich in die hübsche und coole Rebecca (Kelli Garner) und beginnt seine ersten Erfahrungen auf sexuellem Gebiet zu sammeln und Mike verarbeitet den geplatzten Traum als Footballstar, den er vor vielen Jahren verletzungsbedingt aufgeben musste.

    Das komplette Ensemble von „Thumbsucker“ weiß zu überzeugen, doch den Ritterschlag hat Mike Mills für sein herrlich unaufwendiges und doch so lebhaftes Drehbuch verdient. „Thumbsucker“ erfindet nun wirklich nicht das Rad vollkommen neu. Schließlich geht es um einen ganz normalen Teenager mit den ganz normalen Problemen bei der Identitätsfindung. Doch Mills schafft es, in der bodenständigen Realität auch die Poesie des Erwachsenwerdens zu erzählen und, trotz einiger dunkler Töne, ein erfrischend positives Gesamtbild über eine Generation zu zeichnen, die mit viel zu vielen Widersprüchen im Leben klar kommen muss. Das Symbol des erwachsenen Daumenlutschers ist dafür wie geschaffen, doch Mills verabschiedet sich bald von seiner exzentrischen Ausgangsituation und lässt seinen Protagonisten eine wilde Reise der Gefühle durchlaufen, die er mit Fantasiebildern und Tagträumen spickt. Da schlägt dann doch der Werberegisseur in ihm durch. Auch die Nebenfiguren bleiben nicht verschont und werden dem Zuschauer nackt präsentiert. Diverse Neurosen pflastern ihren Weg und bringen somit nur noch mehr Lebendigkeit ins Spiel.

    Wobei wir auch schon bei den Darstellern im Einzelnen wären. Tilda Swinton überzeugt erneut mit einem ernsten Part als verständnisvolle Mutter, die allerdings nur schwer loslassen kann. Die Elternrolle scheint ihr wie auf den Leib geschneidert, denn bereits in „The Deep End“ war sie intensiv, verwundbar und gleichzeitig kämpferisch als eine Mutter, die ihren Sohn bis aufs Blut verteidigen muss. In Tim Roths „The War Zone“ verkörperte sie eine naive Person, deren Lebenslügen sie selbst und ihre ganze Familie in eine Tragödie treiben. Die Rolle der Audrey macht es ihr nun möglich, auch mal komödiantisches Talent zu zeigen. Vincent D’Onofrio ist in Independent-Kreisen etabliert (herrlich als Drogenboss mit Nasenprothese in „The Salton Sea“ an der Seite von Val Kilmer), hat jedoch mit „Men In Black“ oder „The Cell“ auch Blockbuster-Erfahrung. Seine Figur in „Thumbsucker" ist der Spielverderber, doch D’Onofrios Leistung ist es, dass er vom Zuschauer auch Mitgefühl verlangt. Keanu Reeves und Vince Vaughn verkörpern zwar nur Nebenrollen, doch auch diese sprühen vor Widersprüchen und haben bis kurz vor Schluss noch einige Asse im Ärmel. Den einprägsamsten Auftritt hat allerdings Benjamin Bratt als Star in einer Cop-Serie, der später mit einer unvergesslichen Drogenanekdote aufwartet. Mike Mills beweist mit dieser Darstellerriege übrigens, dass er nicht nur kreative Ideen hat, sondern auch weiß, wie sich sein kleiner Film vermarkten lässt, denn einen Keanu Reeves (immerhin ist die „Matrix“-Trilogie noch nicht so lange her und mit „Constantine“ steht der nächste Blockbuster in den Startlöchern) bei der Medientour neben sich sitzen zu haben, macht immer etwas her und ist ein cleverer Schachzug.

    Lou Taylor Pucci wird nach seinem Auftritt hier übrigens nicht lange auf weitere Angebote warten müssen, denn was der junge Schauspieler aus New Jersey zeigt, ist eine riesige Bandbreite an Talent und Ausstrahlung, die ihm zu Beginn des Films ehrlich nicht zugetraut wird. Zunächst spielt er nur das Klischee eines emotional verwundbaren 17-Jährigen, der nur gerne wüsste, wer er ist und wo er hingehen wird. Doch spätestens dann, wenn er mit Medikamenten aufgeputscht den Debattierclub anführt, widerlegt er all unsere Vorurteile. Herrlich!

    Alles in allem ist „Thumbsucker“ ein Goldstück des amerikanischen Independent-Kinos und liefert mehr Seitenhiebe an die US-Gesellschaft, als jeder andere Film der letzten Zeit. Hier wird sowohl die leichtsinnige Diagnose von ADD (Hyperaktivität) angeprangert, unter der in Amerika angeblich mehr als die Hälfte aller Kinder leiden sollen und daher mit Medikamenten behandelt werden, die Kokain in nichts nachstehen, als auch Drogenprobleme im Allgemeinen und die Atomwaffenpolitik der USA. Das Schöne daran ist allerdings, dass Mike Mills seine Meinung in einem Familiendrama der besonderen Art verpackt und weder mit einem Zwinkern im Auge, noch alles auf einem silbernen Tablett schön sichtbar präsentiert. In „Thumbsucker“ sind die Dinge einfach so, wie sie sind. Was übrigens auch die Botschaft des Films ist. Am Ende stehen nämlich keine Antworten, auf die unzähligen Fragen, die Mills sich und dem Zuschauer stellt, sondern nur die Erkenntnis, dass es keine Antworten gibt. „Deal with it!”, schlägt er dann dem Publikum liebevoll vor.

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