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    My Summer of Love
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    My Summer of Love
    Von Lars Lachmann

    Sexuelle Befreiung, „Make love, not war“, psychedelische Erfahrungen mit bewusstseinserweiternden Substanzen... Solcherlei Assoziationen drängen sich bei einem Titel wie „My Summer Of Love“ förmlich auf. Wenngleich Pawel Pawlikowskis Drama zwar unter anderem auch diese Bereiche in seine Handlung einfließen lässt, ist es jedoch keinesfalls das Porträt eines „Summer Of 69“ – jedenfalls nicht im historischen Sinne. Vielmehr ist es die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Mädchen, beide auf dem Weg zum Erwachsenwerden, die sich während eines Sommers kennen und lieben lernen.

    In einem kleinen englischen Dorf in Westyorkshire lebt Mona (Natalie Press) allein mit ihrem älteren Bruder Phil (Paddy Considine) im „Swan“, dem örtlichen Pub. Ihren Vater hat sie nie gekannt und ihre Mutter, die die Wirtschaft führte, ist an Krebs gestorben. Seitdem Phil nicht mehr - wie früher - randaliert, in Häuser einbricht und sich mit anderen Leuten schlägt, sondern seit seiner „Wiedergeburt“ als frommer Christ dem Alkohol abschwört und sich daran macht, die Kneipe in ein Gebetshaus zu verwandeln, ist er Mona fremd geworden, so dass diese befürchten muss, auch ihn verloren zu haben. Während eines Ausfluges mit ihrem motorlosen Mofa trifft sie auf die gleichaltrige Tamsin (Emily Blunt) beim Ausritt auf ihrem Schimmel. Sie verbringt den Sommer auf dem Landhaus ihrer Eltern, da sie des privaten Internats, das sie besucht, vorübergehend verwiesen wurde – aufgrund ihres schlechten Einflusses auf andere, wie sie Mona gegenüber beiläufig erwähnt.

    Die beiden Mädchen stammen aus verschiedenen Welten. Während Mona bisher nur das einfache Leben ihres Dorfes und dessen Umgebung kennt, erzählt ihr Tamsin von den Ideen Nietzsches und Freuds, spielt ihr Saint-Saëns‘ „Sterbenden Schwan“ auf ihrem Cello sowie Stücke von Edith Piaf aus ihrer Plattensammlung vor. Allein das Landhaus, welches Tamsin die meiste Zeit für sich allein zur Verfügung hat, kommt Mona ein wenig wie ein Märchenschloss vor. Trotz der Gegensätze freunden sich die beiden an. Schon jetzt bedeutet Mona ihre Freundschaft mehr als ihr vorheriges, ausschließlich sexuelles Verhältnis zu einem verheirateten Mann aus der Gegend. Tamsin kauft Mona einen Motor für ihr Mofa, auf dem Mona sie mitnimmt, um ihr die Schönheit der Natur Yorkshires zu zeigen. Die beiden kommen sich emotional und schließlich auch körperlich näher. Sie werden zu sisters in crime, nehmen Rache an Monas ehemaligem Liebhaber und konsumieren Magic Mushrooms...

    So sehr sich die beiden hinsichtlich ihrer Herkunft unterscheiden, so verschieden sind sie auch in ihrer jeweiligen Geisteshaltung. Mona ist in ihrer Art sehr unmittelbar und natürlich und zeichnet sich durch ihre – oft sehr direkte – Ehrlichkeit aus. Tamsin dagegen ist fasziniert von der Idee, das Leben mit all seinen Facetten als künstlerisches Konstrukt zu begreifen – und sich diese Sichtweise nutzbar zu machen, indem sie sich und andere in diesem Schauspiel inszeniert, um ihre Mitmenschen auf diese Weise manipulieren zu können. Ihre Auffassung vom Konzept des „Übermenschen“, auf welches sich ihre Nietzsche-Rezeption zu konzentrieren scheint, legt sie gewissermaßen als Legitimation für ihr Handeln aus.

    Als Vorlage für „My Summer Of Love“ diente Pawlikowski der gleichnamige Roman von Helen Cross. Inspiriert durch seine frühere Arbeit an einer Dokumentation über wiedergeborene Christen in Yorkshire, integrierte er die von Paddy Considine gespielte Figur Phil in die Handlung und entfernte sich ein ganzes Stück weit von der Romanvorlage. Überhaupt zeichnete sich ein Großteil seiner Arbeit, als auch die der Schauspieler, durch Improvisation aus, bei der Teile des Scripts erst während der Dreharbeiten ihre endgültige Form erhielten. Das Resultat kann sich als eigenständiges Kunstwerk sehen lassen. Neben den Hauptfiguren Mona und Tamsin, in deren Rollen die Newcomerin Natalie Press sowie Emily Blunt zu überzeugen wissen, erhält das Drama mit der Figur Phil neben der natürlichen (Mona) und der künstlerischen (Tamsin) noch eine zusätzliche, dritte Komponente: die der religiösen Weltsicht, die in ihrer konzentrierten Form letztlich auch wie eine Droge wirken kann.

    Neben dem sich atmosphärisch wie thematisch hervorragend einfügenden Soundtrack ist vor allem die zum Teil brillante Kameraarbeit hervorzuheben: Eine Szene, die lediglich die Gesichter der beiden Mädchen im silhouettenhaften Profil vor den Flammen eines Lagerfeuers erkennen lässt, ist einer der Höhepunkte des Films. Den Höhepunkt überhaupt bildet jedoch der Schluss, der noch einmal in mehrerlei Hinsicht zu überraschen weiß. „My Summer Of Love“ wurde von der British Film Academy als bester britischer Film dieses Jahres ausgezeichnet und bietet sehr viel mehr als man von einem gewöhnlichen Coming-Of-Age-Drama erwarten würde.

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