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    Kilomètre zéro
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Kilomètre zéro
    Von Nicole Kühn

    Seine Heimat zu verlassen, kann viele Gründe haben. Leicht fällt dieser Schritt nie, selbst wenn ein Heimatland als hoheitliches Territorium gar nicht existiert. Mitten in die Absurditäten eines Volkes ohne Land, aufgerieben zwischen allen Fronten, führt Hiner Saleem in seinem neuen Film „Kilomètre Zéro“. Irakische Kurden finden sich in einem innerarabischen Krieg wieder, ihre Bürgerpflichten als Iraker werden in Anspruch genommen, ohne jedoch als richtige Landsleute anerkannt zu werden. Das Gebot der Stunde heißt, sich aus dem Staub zu machen. Doch das ist leichter gesagt als getan.

    Im irakisch-kurdischen Niemandsland lebt Ako (Nazmi Kirik) mit seiner kleinen Familie. Im Jahr 1988 dauert der Krieg Iraks gegen Iran bereits acht Jahre, ohne dass eine Lösung in Sicht wäre. Dem Nachwuchs will Ako eine Zukunftsperspektive verschaffen und das in weiten Teilen am Boden liegende Land verlassen, in dem Saddam Hussein sich als Übervater feiern lässt und die landlosen Kurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Einziges Hindernis ist der bettlägerige Vater von Akos Frau Selma (Belcim Bilgin). Solange dieser noch am Leben ist, will sie das Haus nicht verlassen. Das Befürchtete wird wahr und Ako gegen seinen Willen in die irakische Armee eingezogen. Gemeinsam mit zwei Freunden landet er nach einer aberwitzig naiven Ausbildung an der Front. Belastender als die Kriegsereignisse sind für ihn die demütigenden Handlungsweisen der irakischen Vorgesetzten. Der Widerspruch, als Soldat für das Land kämpfen zu sollen und gleichzeitig als minderwertiger Mensch regelrecht geächtet zu werden, lässt in ihm - zusammen mit der Angst vor Tod oder Verletzungen - den Plan reifen, sich selbst zu verstümmeln, um als Untauglicher zurück zu seiner Familie geschickt zu werden. Doch das Schicksal kommt ihm zuvor…

    Mit dem Galgenhumor derjenigen, die sich langfristig in einer aussichtslosen Situation befinden, macht Saleem die Widersinnigkeiten von Kriegen und ethnischen Konflikten in seinem Drama „Kilomètre Zéro“ greifbar und fängt gleichzeitig die lähmend beängstigende Atmosphäre ein, die totalitäre Regime aufzubauen pflegen. Sein Sinn für das Skurrile prägte auch den erfolgreichen Vorgänger „Vodka Lemon“. Hier wie dort geht das auch bis an die Grenzen des zart besaiteten Humors, dürfte jedoch die Stimmung der Figuren recht gut wieder geben. Das unter schwierigen Produktionsbedingungen in Saleems Heimatland Kurdistan entstandene Road-Movie um Ako basiert auf realen Hintergründen. Für ihn selbst waren die Dreharbeiten Anlass, sich nach 17 Jahren des Exils wieder direkt mit seinem Herkunftsland zu konfrontieren.

    Die im Irak unter Husseins Führung stark in den Vordergrund gerückte Symbolik spitzt sich bis zur Groteske zu. So wird ein Leichentransport auf seiner Irrfahrt durch das karge, in der Ebene endlos erscheinende Land ständig von einem Lastwagen gekreuzt, auf dessen Ladefläche die massige Statue Saddam Hussein emporragt, wie die Freiheitsstatue aus den Gewässern vor New York. Die inhaltliche Gegensätzlichkeit der Figuren bei formaler Parallelität könnte größer kaum sein, so dass die alles überragende, fahrende Statue Saddams für den sich nach Freiheit sehnenden Ako geradezu die gespenstischen Züge eines Big Brother annimmt. Gegen den Willen beider entwickelt sich fast eine Art Freundschaft zwischen den Männern auf ihrer aufgezwungenen Mission. Nach anfänglich eisigem Schweigen werden zögerlich die Barrieren löchrig, durch den Austausch über das Privatleben erkennt man gegenseitig Ähnlichkeiten an. Dennoch bleibt es jedem fast peinlich, wenn wie aus Versehen ein freundschaftliches Wort fällt und das Verhältnis findet aus dem beiderseitigen Misstrauen nicht heraus.

    Die Kritik Saleems an den Zuständen im irakisch-kurdischen Gebiet ist gerade deswegen so stark, weil sie auf jedes Heischen von Mitleid verzichtet. Es werden keine unschuldigen Engel zum Opfer gemacht, sondern Menschen in ihrem völlig verständlichen Bestreben gezeigt, das Bestmögliche für sich zu erreichen. Dazu setzen sie nicht immer nur lautere Mittel ein. Gerade der Verzicht auf eine moralische Überhöhung ermöglicht eine Identifikation mit den Protagonisten. Welchen Preis sie bereit sind zu zahlen, wird durch die kurz gehaltene Rahmenhandlung erzählt, in der das Ako mit seiner Frau in einem verregneten Paris die Nachricht vom Sturz Saddams hört und die Erleichterung über diese Entwicklung in der fernen Heimat sich in französischer Sprache artikuliert. Es hat einige Zeit gebraucht, bis ein solcher Film realisiert werden konnte, und immer noch merkt man ihm die technischen Schwierigkeiten an, die eine Produktion im Irak immer noch mit sich bringt. Trauriges Zeichen dafür, dass der Stillstand ausdrückende Titel „Kilomètre Zéro“ passend gewählt ist. Passend für einen Film über ein Land, das selbst Jahre nach der Befreiung nicht viel weiter gekommen scheint, in dem Gewalt und Terror trotz internationaler Bemühungen weiterhin an der Tagesordnung sind und der Konflikt mit den Kurden keineswegs einer Lösung entgegen geht. Untergehen in der öffentlichen Wahrnehmung ist eher sein Schicksal, dem Saleem hier auf erstaunlich unterhaltsame Art entgegen tritt.

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