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    Was vom Tage übrig blieb
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Was vom Tage übrig blieb
    Von René Malgo

    Es gibt Meisterwerke, die kommen zu einem erdenklich schlechten Zeitpunkt ins Kino. L.A. Confidential z. B., der ob des Titanic-Hypes in der Wahrnehmung der Kinogänger hoffnungslos in dessen Schatten unterging. Auch „Was vom Tage übrig blieb“ erschien 1993 in einem für den Film nicht sehr günstigen Jahr auf der großen Leinwand. Denn Steven Spielbergs Schindlers Liste räumte anno dazumal so ziemlich alle Preise ab und ließ zahlreiche exzellente Vertreter - derer es in jenem Jahr erstaunlich viele gab - im Regen stehen. „Schindlers Liste“ hat tatsächlich alle Aufmerksamkeit und Preisüberhäufung verdient, die ihm zuteil wurde, doch in einem anderen Jahr wäre „Was vom Tage übrig blieb“ gerade während der Oscarverleihung nicht so leer ausgegangen. Denn das Drama ist gleich wie „Schindlers Liste“ ein Meisterwerk.

    Großbritannien in den 50er Jahren: Bei einer Versteigerung erwirbt der amerikanische Millionär Lewis (Christopher Reeve) das Herrenhaus Darlington des in Schande verstorbenen Lord Darlington (James Fox). Ihm wurde vorgeworfen, Anfang der 30er Jahre mit Nazis zusammengearbeitet zu haben. Butler Stevens (Anthony Hopkins) erinnert sich in einem Brief, gerichtet an die ehemalige Haushälterin Miss Kenton (Emma Thompson), an diese Zeit zurück und daran, wie sie zum ersten Mal in Darlington Hall aufkreuzte. Als Stevens seiner aus Pflichtgefühl unterdrückte Liebe ihr gegenüber gedenkt, beschließt er, nach all den Jahren, Miss Kenton aufzusuchen und seinen Fehler gut zu machen.

    Sollte irgendwer „Was vom Tage übrig blieb“ noch nicht gesehen haben (an dieser Stelle: Shame on you), der muss nach Begutachtung der Inhaltsangabe keine Angst vor mögliche Rosamunde-Pilcher-Irrungen- und Wirrungen haben. „Was vom Tage übrig blieb“ ist nämlich kein so genannter Frauenfilm (wobei jener Begriff gleich der Definition „Männerfilm“ ohnehin ein Unding ist). „Was vom Tage übrig bliebt“ bietet mehr als eine einfache Liebesgeschichte, ist mehr als ein schön anzuschauender Kostümfilm und bleibt zu alledem erstaunlich kitsch- und klischeefrei. Das wiederum ist kein Unding, sondern ein tolles Ding, ja eine Meisterleistung. Der Film, das sei nochmals gesagt, ist eine Meisterleistung.

    Was aber macht „Was vom Tage übrig blieb“ - worauf in kurzer Textzeit schon penetrant häufig hingewiesen wurde - so meisterlich? Es sind da drei Punkte, die diesen Umstand ganz besonders begründen: der Inhalt, die Darsteller und die Inszenierung.

    Es gibt wenige Meisterwerke, die keinen komplexen Inhalt hätten. „Was vom Tage übrig blieb“ ist komplex. Nicht kompliziert, denn ein jeder kann dem Drama leicht folgen, aber die Geschichte deckt viele thematische Facetten kompetent ab. Inhaltlich ist der Kostümfilm zeitlos. Es geht eben nicht nur um eine unterdrückte Liebe und die Unfähigkeit, eigene Gefühle auszudrücken - vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs in einem britischen Herrenhaus, sondern auch um falsches Pflichtgefühl, unangebrachte Loyalität und ideologische Irreleitungen. Butler Stevens (Anthony Hopkins) fühlt sich seinem Lord (James Fox) gegenüber verpflichtet. Sein ganzes Leben opfert er seiner Arbeit. Der Lord wiederum möchte aus bestem Wissen und Gewissen mit den Deutschen zusammenarbeiten. Er sieht es aufgrund des Versailler Vertrages als seine moralische Verpflichtung an, mitzuhelfen, dass Deutschland wieder eine nennenswerte Nation wird. Er merkt nicht, wie er von den Nazis benutzt wird. Die Haushälterin Miss Kenton (Emma Thompson) ist die Frau, in der sich Stevens - ohne es einzugestehen - verliebt. Sie lässt ihren Gefühlen und Gedanken im Rahmen der Möglichkeiten freien Lauf, doch wie Stevens fällt sie einer gewissen Bequemlichkeit, gar Feigheit zum Opfer. Sie fühlen sich recht wohl und - in ihrem kleinen Kosmos - relativ bedeutend in ihrer zugedachten Rolle. Als der Lord, endgültig fehlgeleitet, zwei jüdische Flüchtlingsmädchen aus Deutschland entlässt, was den Tod bedeutet, geht das sowohl Miss Kenton als auch Stevens nahe. Sie regt sich auf, er schluckt es, doch beide können oder wollen nichts weiter dagegen unternehmen.

    Es gibt aber auch die Idealisten in „Was vom Tage übrig blieb“, die handeln, aber zumindest anfangs gegen eine Wand von Unverständnis stoßen: des Lords Ziehsohn Cardinal (Hugh Grant), der ihn über alles liebt oder der amerikanische Millionär und ehemalige Kongressmann Lewis (Christopher Reeve). „Was vom Tage übrig blieb“ befasst sich mit dem in Großbritannien unliebsamen Thema über britische Lords, die während den Anfängen des Zweiten Weltkriegs mit Nazis sympathisiert und zusammengearbeitet haben. So wirkt der Film nicht nur als Liebegeschichte, sondern auch als politisches Drama. Darüber hinaus berührt aber gerade die ohne falsche Gefühlsduselei oder übermäßigem Kitsch erzählte Liebesgeschichte. Sie stellt selbstverständlich das Zentrum der Geschichte dar und kann sich der Aufmerksamkeit des Betrachters zu jeder Zeit gewiss sein. Daneben ranken sich diverse Handlungsnebenstränge und Schicksale. Sei es die Geschichte und Beziehung zwischen Butler Stevens und seinem Vater (Peter Vaughan), Stevens Jr. Beziehung zu Lord Darlington, Lord Darlingtons Beziehung zu den Nazis, Cardinals Beziehung zu Lord Darlington und den Beziehungen innerhalb der Dienerschaft. Obendrein bekommt das Publikum noch einen authentisch wirkenden Einblick in die oft romantisierte Welt der Lords und hinter die Kulissen der Upper Class Großbritanniens Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein Lob an die für diese Leistung oscarnominierte Ruth Prawer Jhabvala, Stammdrehbuchautorin bei Produktionen von Produzent Ismail Merchant und Regisseur James Ivory. Sie hat den vielschichtigen Bestseller des Japaners Kazuo Ishiguro kongenial umgesetzt.

    Die Ausführungen zum vielfältigen Inhalt deuten es schon an, für solch komplexe Charaktere braucht es begnadete Darsteller. Und diese füllen denn auch allesamt die präzise gezeichneten Figuren vorzüglich aus. Zu Recht erhielten sowohl Anthony Hopkins als auch Emma Thompson eine Oscarnominierung für die beste Hauptrolle (männlich und weiblich). Beide verleihen ihren Charakteren viel Tiefe und bieten durch nuanciertes, nie zu aufdringliches Spiel eine breite Identifikationsfläche für den Zuschauer. Identifizieren mag das Publikum sich auch mit dem fehlgeleiteten aber aufrichtigen Lord Darlington, der mit James Fox die Idealbesetzung für einen englischen Landlord erhält. Gut ist auch der damals noch wenig bekannte Hugh Grant, oder Christopher Reeve in ungewohnter Rolle als millionenschwerer Ami von Welt. Peter Vaughan, Michael Lonsdale, Tim Piggot-Smith oder Ben Chaplin könnten genauso lobend erwähnt werden. Sie vermögen es ebenso, den weniger wichtig erscheinenden Protagonisten im Film Profil zu verleihen. „Was vom Tage übrig bliebt“ kennt keine Antagonisten, es wird auf Schwarz-Weiß-Malerei verzichtet. Es gibt nur Menschen, Menschen wie wir sie aus dem täglichen Leben kennen können, trotz eines weit zurück und entfernt liegend erscheinenden Ambientes und Themas.

    Komplettiert wird der mehr als stimmige Eindruck durch eine tadellose Inszenierung. Für prächtige malerische Bilder sorgt Kameramann Tony Pierce-Roberts (Underworld, Kiss, Kiss, Bang, Bang), der gebührend von Ivory/Merchants Stammkomponist Richard Robbins unterstützt wird. Die ausgewählten Kostüme und die pompöse Ausstattung bestechen durch Liebe zum Detail. Zusammen sorgen all diese genannten formalen Stärken für eine beachtliche Atmosphäre, die zwar ein typisch romantisiertes Filmambiente ausstrahlt, aufgrund der realistischen Thematik und nüchternen aber nicht distanzierten Erzählweise doch Lebensnähe erzeugen und beibehalten kann. Das Ganze formt Regisseur James Ivory gekonnt zu einem großen, bis ins kleinste Detail stimmigen Ganzen. Seiner subtilen Regie ist es zu verdanken, dass der Film trotz zahlreicher Emotionen und vieler bedeutungsschwangerer Themen nie zu plump oder gefühlsduselig daherkommt.

    Dank dem feinen, stets angebrachten Humor ist „Was vom Tage übrig blieb“ nicht zu einem schwer verdaulichen, depressiven Rührstück geworden. Im Gegenteil, es gibt zwar kein Happy End im herkömmlichen Sinne (das sei mal verraten), doch der Film entlässt sein Publikum keineswegs gebeutelt und niedergeschlagen. Und da mag vielleicht die größte Stärke des Dramas liegen: „Was vom Tage übrig bliebt“ bringt große Emotionen, tiefe Wahrheiten und viel Tragik mit solcher Selbstverständlichkeit, so gekonnt und so leichtfüßig an den Betrachter, dass er/sie sich nach (dem tatsächlichen) Genuss dieses Films kaum schlecht fühlen kann. Denn „Was vom Tage übrig blieb“ ist wie das Leben selbst, voller von fehlerhaften Menschen verpatzter Chancen und Schicksalsschlägen einerseits, voller Hoffnung und Wärme andererseits, sehr schön…

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