Während Kinofilme sich in der Regel schon aus Zeitgründen auf ein Genre beschränken müssen, unternimmt diese Serie Vorstöße in Richtung Drama, Krimi, Justiz- und Knastthriller. Dass das alles funktioniert ist nicht nur der virtuosen Regie von Zaillian und Marsh zu verdanken, sondern auch den exzellenten Darstellern, allen voran Riz Ahmed und John Turturro. Und obwohl sich sowohl allzu routinierte Polizisten als auch eine verbissene Staatsanwältin hervorragend als Antagonisten eignen würden, bleibt der eigentliche Gegenspieler das US-amerikanische Justizsystem, das gleich einem ewig hungrigen Moloch seine Opfer und Angestellten gleichermaßen verschlingt. Wer einmal unter Mordverdacht steht, der gilt schon vor der Urteilsverkündung als in der Gesellschaft unerwünschte Person, erst recht wenn er aus einer muslimischen Familie mit Migrationshintergrund stammt.
Zaillian und sein Mitautor Richard Price begehen jedoch nie den Fehler irgendwelche Randgruppen oder durchtriebene Ermittler und Juristen als eindeutige Stereotypen zu zeigen. Einerseits verpassen sie so ziemlich jeder Figur ausreichend Facetten, so dass der Zuschauer selbst entscheiden muss, wessen Handeln er nun am ehesten nachvollziehen kann. Andererseits wird deutlich wie effektiv soziale Kontrolle und öffentliche Ächtung auch in einer modernen vernetzten Welt und einer Millionenmetropole wie New York noch sein können. Die Absprachen zwischen Anwälten und Anklage erinnern an Gerichtsthriller à la John Grisham und gut genug recherchiert ist "The Night Of" in dieser Hinsicht allemal.
Klischees finden sich hauptsächlich in den Gefängnisszenen. Natürlich gibt es in der "Hölle von Riker's Island" wie in jedem Knastdrama seit "Die Verurteilten" einen Gangsterboss mit Gewaltproblem, der den Laden in Wirklichkeit mehr kontrolliert als die Direktoren. Noch dazu hat dieser hier eine Affäre mit einer Wärterin, die ihn fürs Liebesspiel aus seiner Zelle und in finstere Keller führt. Es ist nicht das erste und garantiert auch nicht das letzte Mal, dass harter Sex und nackte Tatsachen bei HBO als Verkaufsargument eingesetzt werden, insgesamt halten sich die üblichen Stilmittel des Senders jedoch erfreulich in Grenzen und man lässt Drehbuch, Kamera, Regie und Darsteller das tun, was sie am besten können.
Naz' Fall ist zwar der einzige, der in den acht Folgen verhandelt wird, dennoch bleibt es bis zur abschließenden Urteilsverkündung spannend. Diese Spannung speist sich nicht nur aus der für den Zuschauer bis zuletzt offenen Schuldfrage, sondern auch an der Entwicklung der Figuren, die sich teilweise schon mit ihrem Schicksal abgeben oder die alternativen Lesarten des Verbrechens zu glauben beginnen. Damit ist dieses Serienspecial ein komplexes, hochspannendes und unterm Strich überaus gelungenes Krimidrama, das man in dieser Ausführlichkeit noch nicht gesehen hat.