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    Blue Valentine
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Blue Valentine
    Von Florian Koch

    Ein Filmprojekt auf die Beine zu stellen, das kann dauern. Wir sprechen hier nicht über einen Zeitraum von einigen Monaten. Derek Cianfrances Beziehungsanalyse „Blue Valentine" ist so ein Härtefall. Zwölf lange Jahre musste der Regisseur auf die Realisierung warten; immer wieder kam es zu Komplikationen, die einen Drehbeginn verhinderten. Erst bereitete die Finanzierung Sorgen, dann mussten die Dreharbeiten verschoben werden, weil Hauptdarstellerin Michelle Williams den Tod ihres langjährigen Lebensgefährten Heath Ledger verarbeiten musste. Schließlich wurde der Drehort von Brooklyn nach Pennsylvania verlegt, damit Williams immer in der Nähe ihres Kindes sein konnte. Erst als Cianfrance auch noch seine komplette Gage in den Film investierte, konnte es – mit einem schmalen Budget von 3,5 Millionen Dollar – endlich losgehen.

    Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams) haben große Beziehungsprobleme. Um sie zu lösen, kommt der Anstreicher auf eine Idee, die seiner Frau, die in ihrem Job als Krankenschwester genügend Sorgen hat, kaum in den Kram passt. Er will Cindy in ein exklusives Stunden-Motel ausführen, um ungestört vom Alltagslärm alle Differenzen zu lösen und endlich ein bisschen Intimität zu genießen. Dafür wird die Tochter Frankie (Faith Wladyka) bei Cindys krankem Vater (John Doman) abgesetzt. Während Dean und Cindy im Motel versuchen zu retten, was nicht mehr zu retten ist, rekapituliert „Blue Valentine" in Rückblicken den Beginn ihrer großen Liebe...

    Nach der erfolgreichen Sundance-Premiere von „Blue Valentine" im Januar 2010 kam es zu einem unerwarteten Problem. Der Kinostart Ende Dezember war plötzlich gefährdet, potentielle Oscar-Nominierungen in weite Ferne gerückt. Der Grund: Die Freigabe NC-17, die im Gegensatz zum R-Rating auch mit erwachsener Begleitung kein jugendliches Publikum unter 17 Jahren zulässt. Die strengste Altersfreigabe der USA kann den kommerziellen Fahrplan großer Projekte gehörig durcheinander bringen; ähnliche Härtefälle waren Bernardo Bertoluccis „Die Träumer" und Atom Egoyans „Wahre Lügen (Where the Truth Lies)". Grund für das sonst nur an Hardcore-Streifen verliehene NC-17-Rating war hier eine orale Befriedigungsszene mit Michelle Williams. Die Weinstein Company, die „Blue Valentine" in den USA herausbringen wollte, legte Berufung ein – und bekam Recht. Der Film durfte mit einem R-Rating starten.

    Ähnlich wie in François Ozons „5x2" oder in jüngerer Zeit „(500) Days of Summer" wird in „Blue Valentine" eine bereits gescheiterte Beziehung mit dem Beginn ihrer Entstehung kontrastiert. In Derek Cianfrances filmischer Versuchsanordnung überwiegen jedoch die schmerzlichen, bitteren Momente, was seine Arbeit in die Nähe von Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe" rücken lässt. Unbestritten ist „Blue Valentine" ein Film, der vor allem von den Leistungen seiner beiden Hauptdarsteller lebt. Sowohl Ryan Gosling, als auch die oscarnominierte Michelle Williams spielen aufopferungsvoll und mitreißend, ersparen dem Zuschauer keine schmerzlichen Details, und zeichnen zwei Charakterporträts, wie sie komplexer und differenzierter kaum sein können. Zum Gelingen des mutigen Seelenstriptease trägt entschieden bei, dass keiner der sympathischen, immer nachvollziehbar handelnden Figuren ein schwarzer Peter für die Beziehungskrise zugeschoben wird.

    Vorsichtig nähert sich der Film den Figuren an, zeigt Cindys zerrüttetes Elternhaus, deutet ihre zahlreichen Männerbekanntschaften an, erklärt die ungewollte Schwangerschaft und ihre gescheiterten Bemühungen um eine berufliche Erfüllung als Medizinerin. Dean hingegen ist ein verspielterer Typ, der sich treiben lässt, keinen Bezug mehr zu seiner Familie hat und sich ohne Murren mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Es sind vor allem die Lebensentwürfe, die Wünsche und Hoffnungen, die sich bei beiden anders entwickelt haben. Das zeigt sich bereits an Äußerlichkeiten: Dean steckt in den Rückblenden voller Energie, trägt coole Lederjacken und Kaputzenpullis, lässt sich für seine Freundin zusammenschlagen und von ihrem Vater beleidigen. Sechs Film-Jahre später begegnet das Publikum einem aufgeschwemmten Mann im verdreckten Gammellook, träge in den Bewegungen, mit tiefen Geheimratsecken und einer schlecht sitzenden Sonnenbrille. Der Alkohol hat ihn gezeichnet, berufliche Perspektiven gibt es für den Highschool-Abbrecher kaum noch.

    Dennoch wird Dean von Cianfrance nicht als stereotyper Loser inszeniert. Er ist ein Hausmann, der in seiner Vaterrolle aufgeht – obwohl das Kind nicht einmal von ihm stammt. Cindy wiederum hat sich nicht mit diesem spartanischen Leben abgefunden, sucht noch nach Anerkennung im Beruf, legt Wert auf Kleidung und Disziplin, und verzweifelt an ihrem abgehalfterten Lebenspartner, der dazu noch das bessere Verhältnis zum Kind pflegt. In einer verschachtelten Rückblendenstruktur wird die gegenläufige Entwicklung der beiden Figuren gegenübergestellt. Die Zeitsprünge wirken dank eleganter Schnitte nie abrupt. Auch die zahlreichen Parallelmontagen der sich fremd gewordenen Partner werden angenehm subtil eingesetzt; das Gefühlschaos wird vom dezenten Soundtrack der Band Grizzly Bear wirkungsvoll unterstützt. Bis auf die Suche nach einem entlaufenen Hund verzichtet Cianfrance völlig auf narrative Schlenker. Spannung bezieht „Blue Valentine" derweil aus pointierten Dialogen und zugänglich geschilderten Streitsituationen

    Schmerzlicher Konflikt-Höhepunkt ist die gescheiterte Sexszene im fürchterlich als „Star Trek"-Brücke ausstaffierten Motel-Zimmer. Dieser von Cianfrance keineswegs pornografisch-oberflächlich inszenierte Liebesakt artet zum Kleinkrieg aus und entscheidet die Zukunft des Paares. Hoch anzurechnen ist dem Regisseur, dass der Film darüber nicht zur Selbstmitleids-Orgie gescheiterter Figuren verkommt. Am Ende sind es vielmehr harmonische Momente, die besonders hängen bleiben: Wie Cianfrance mit verwackelter Hand-Kamera die erste nächtliche Annäherung von Dean und Cindy inszeniert, und Williams zu Goslings Ständcheneinlage befreit lostanzt – das gehört zum rührendsten und charmantesten, was das amerikanische Beziehungskino in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat.

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