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    Die Vermissten
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Vermissten
    Von Asokan Nirmalarajah

    Kinder sind unheimliche Lebewesen – das lehren uns zumindest Horrorfilme, in denen die Sprösslinge ahnungsloser bis beunruhigter erwachsener Protagonisten als Träger („Der Exorzist", „Das Omen") oder als Ursprung des Bösen („Das Dorf der Verdammten", „Joshua") fungieren. Auch im faszinierenden Spielfilmdebüt des Berliner Videokünstlers und mehrfach ausgezeichneten Kurzfilmregisseurs Jan Speckenbach („Spatzen") entziehen sich Handlungen, Gesten, Blicke und Wörter der kindlichen Figuren untereinander dem begrenzten Verständnis unseres Protagonisten, eines unfreiwilligen Vaters, der auf der Suche nach der vermissten Tochter seiner Ex-Frau selbst in der ominösen neuen Weltordnung der Kinder verloren geht. Speckenbach packt in die 86 Minuten seines wagemutigen deutschen Genre-Mix aus nüchtern-distanziertem Familiendrama, verstörend subtilem Horrorfilm und zunehmend bizarrem Mystery-Thriller eine Fülle an superben Einfällen – so wird aus „Die Vermissten" ein exzellent gespielter und inszenierter Film, der über weite Strecken fesselt.

    Lothar (André Hennicke) ist Sicherheitsbeauftragter für Nuklearanlagen und lebt mit seiner Freundin in der Stadt. Eines Tages erhält er einen Anruf von seiner Ex-Frau, die ihm davon berichtet, dass ihre gemeinsame 14-jährige Tochter Martha von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden ist. Erst will Lothar nichts davon wissen, hat er das Kind doch auf Wunsch seiner früheren Gattin schon seit Jahren nicht mehr gesehen und weiß nicht einmal, wie es heute aussieht. Trotz seiner Bedenken macht er sich auf, um nach Martha zu suchen. Doch weder die Lehrer an ihrer Schule, noch ihre Freunde können ihm helfen. Lediglich eine Internetgruppe für Jugendliche und Kinder, die sich unter einem mysteriösen Symbol auf dem Land im Wald treffen und zu denen auch Martha gehörte, weckt sein Interesse. Von der 12-jährigen Ausreißerin Lou (Luzie Ahrens), die er erst in seinem Auto und dann zu Fuß mitnimmt, erhofft er sich mehr Informationen über die ominöse Bewegung. Bald darauf befindet er sich auf einer ziellosen Odyssee durch die ländlichen Gegenden zwischen den Fronten der Generationen...

    Jan Speckenbachs Film, der auf der Berlinale 2012 in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino" seine Weltpremiere feierte, endet mit einer Widmung des Regisseurs an seine Eltern und an seine Tochter. Und der Filmemacher übernimmt auch in seiner beklemmend sozialkritischen Parabel gewissermaßen die Mittlerfunktion zwischen zwei Generationen. Er führt in eine sehr vertraute, zeitgenössische Erwachsenenwelt ein, die aber aufgrund der Abwesenheit von Kindern bereits klare dystopische Merkmale aufweist. Der Fehler der alten Generation besteht hier darin: Die Eltern verkennen, dass die Jungen nicht mehr gegen das Establishment rebellieren, sondern sich schlichtweg aus dem materialistischen System der Älteren auskoppeln.

    Doch bevor der ruhig und bedächtig erzählte Film im dramaturgisch mäßigen letzten Handlungsdrittel dieses surrealistische Plateau erreicht, baut Speckenbach stark Spannung auf. Mit den klaren, intensiven Bildern seiner Kamerafrau Jenny Lou Ziegel, die die anonymen Landschaften irgendwo zwischen Wolfsburg und Hannover fotografiert, als seien sie die postapokalyptische Kulisse für eine Großproduktion wie „The Road" oder „The Book of Eli", der intelligenten, sparsamen Montage von Wiebke Grundler und der gruseligen Suspense-Musik von Matthias Petsche entwirft der Regisseur ein eindringliches Endzeitszenario. Die Science-Fiction-Elemente halten sich in Grenzen, aber dennoch hat man das Gefühl, einen Film zu sehen, der sich von der Realität nach und nach verabschiedet.

    Das führt ab etwa der Mitte des Films auch zu einigen Ungereimtheiten. Der Sprung in eine eher märchenhafte Erzählung, in der nicht alles Sinn ergibt, ist sehr abrupt und stößt sich mit den realistischen Elementen. Zur Glaubwürdigkeit der Figuren und Situationen tragen derweil die lebensnahen Dialoge bei – und die starken Darsteller, allen voran André M. Hennicke („Antikörper") als getriebener Rationalist, der nach und nach die Zivilisation hinter sich lässt. Dem gegenüber steht eine gelegentlich arg aufdringliche Symbolik: die immer wieder in Zwischenschnitten zu sehenden Zugvögel, die Anspielungen auf die deutsche Sage vom „Rattenfänger von Hameln", die wiederkehrende Einstellung vom erwachsenen Protagonisten, der hinter einem Fenster von der Welt der Kinder abgeschnitten ist. Diese Spielereien gipfeln dann in einem rätselhaften Finale, mit dem die mit dem die Handlung zu einem wenig befriedigenden Schluss kommt.

    Fazit: „Die Vermissten" ist ein modernes Anti-Märchen über die Flucht der Kinder und die Machtlosigkeit ihrer Eltern. Regisseur Jan Speckenbach baut ein ständiges Gefühl der Beklemmung und Unsicherheit auf, hier und dort gebrochen durch leisen Humor – es entsteht eine sehenswerte Mischung aus Drama, Horror und Mystery mit nur wenigen kleinen Schwächen.

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