Die Sonne scheint und das Abhängen wird zur ganz großen Kinokunst
Von Kamil MollDurch einen dämmrigen Gang schaut Simon (Leo Konrad Kuhn) herunter auf die offene Tür, die in die Sporthalle seiner Schule führt. Der Rest seiner Klasse hat bereits Unterricht. Zum Aufwärmen rennen die Schüler*innen von links nach rechts die Halle entlang und zum Pfeifen des Lehrers, der das Tempo und den Rhythmus vorgibt, von rechts nach links wieder zurück. Vielleicht ist es nur dieser kurze Blick, der Simon, obwohl er sich eigentlich gerade in Trainingsklamotten umgezogen hatte, dazu bewegt, wieder umzudrehen. Vielleicht ist es auch einfach die schon länger brodelnde Erkenntnis, dass wer 17 Jahren alt ist, an einem heißen Sommertag etwas Besseres zu tun haben sollte, als in der Schule zu sein. Nur was eigentlich genau? Um diese Frage kreist Willy Hans‘ Langfilmdebüt „Der Fleck“, in dem er Simon beim Herumdriften und Abhängen, Rumlabern und Anbandeln begleitet.
Im Rückblick scheinen diese endlosen Nachmittage voller Wärme und entspannter Lethargie, in denen es sich ohne Plan losgehen und loslegen lässt, ja vielleicht die Essenz der Teenagerzeit zu sein: etwas, das nie aufhören will und doch irgendwann für immer vorbei sein wird. Aus der Wehmut, die durch die Erinnerung daran entsteht, schöpft seit Langem das Coming-of-Age-Genre seinen melancholischen Glanz. Insbesondere amerikanische Highschool-Filme, seien es zuletzt „Snack Shack“ oder „The Kings Of Summer“, kehren immer wieder an dieselben geradezu mythisch überhöhten Orte der Jugend zurück, variieren dabei stets die gleichen Geschichten und prägenden Erlebnisse. Mit „Der Fleck“ fügt Hans diesem Kanon an Reminiszenzen und Beschwörungen nun einen Film hinzu, wie es ihn so beseelt im deutschsprachigen Kino seit Hans-Christian Schmids „Crazy“ nicht mehr gegeben hat.
Auf dem Weg nach Hause begegnet Simon seinem Freund Enes (Shadi Eck), der sich aus der offenen Fahrertür eines Autos herauslehnt: „Hast du Bock mitzukommen?“ Es geht zu einer Stelle am Fluss, inmitten eines Waldstücks, zu der schon einige vorausgefahren sind: Freund*innen von Freund*innen eigentlich, etwas älter, die gerade ihr Abi gemacht haben. Da ist eine, die Simon zu Beginn etwas spöttisch mustert, und eine andere, die eine ärmellose Fred-Perry-Bluse mit Basecap kombiniert trägt und darin viel zu cool aussieht, als dass sich Simon trauen würde, mit ihr zu quatschen. Und ein Typ, der schon eher erwachsen wirkt, erzählt irgendeine Story von seinem Cousin, bei der er selbst als Letzter merkt, dass sie auf keinen Witz und keine Pointe zusteuert. Langsam lässt die Kamera, die ihn dabei beobachtet, sein Gesicht unscharf werden, fixiert etwas im Hintergrund am Ufer, so als verliere der Film für einen kurzen Moment das Interesse an diesem wunderbar ziellosen Gelaber.
Immer wieder verschiebt sich in „Der Fleck“ dabei der Blick: Von zwei in einem Gebüsch küssenden Mädchen driftet der Film ab zu rätselhaft undurchdringlichen, plötzlich überbelichtenden Einstellungen des Waldes: einem mit Moos überwachsenen Felsen am Ufer, den kreiselnden Strömungswirbeln im Fluss oder einem zu Boden gefallenen Baumgeäst, das in der Nahaufnahme zu einem eigenen, verlockenden Mikrokosmos wird. Dann wieder scheint die Kamera wie durch die Augen von Simon zu schauen, kippt plötzlich zur Seite, wenn er im Gesicht von einem scharf geworfenen Ball getroffen wird. Der innerliche Erfahrungsraum der Jugend und die äußere Natur als Empfindungswelt mit ganz eigenen Gesetzen scheinen dabei in eins zu fallen.
Dabei streift Willy Hans auch immer wieder unvorhersehbar die Nähe zum reinen Experimentalfilm. Aber auch wenn sich der Film dabei nie so recht in die Karten blicken lässt, gerät nichts zum rein spielerischen Selbstzweck. Auch die Wahl, „Der Fleck“ auf analogem 16mm-Material zu drehen, ist nicht einfach nur ein wohlfeiler Retro-Marker. Die Farbeigenheiten des Zelluloids und die schärfere Körnung des Materials prägen vielmehr ganz wesentlich die visuelle Welterschließung des Films und entfalten eine eigene Form von zärtlicher Psychedelik.
Aus abstrakten Sequenzen findet der Film jedoch immer wieder traumwandlerisch sicher zurück zu seiner Geschichte: Als Simon beim zunehmend gelangweilten Schlendern durch den Wald eigentlich wieder zurückkehren möchte, taucht plötzlich als Beifahrerin auf einem Motorrad Marie (Alva Schäfer) auf. Sie trägt eine Häkelweste über einem zerfransten Shirt, hat in blau-grünlichen Abstufungen gefärbtes Haar und ohne Umschweife stiftet sie Simon dazu an, ihr Kleingeld zusammenzulegen und sich gemeinsam eine Portion Pommes an der nahe gelegenen Raststätte zu holen.
Wie diese Begegnung Simon transformieren und verändern kann, spielt dessen Darsteller Leo Konrad Kuhn in seinem Spielfilmdebüt mit großem Gespür für die widerstreitenden Empfindungen der Teenagerjahre: schüchtern, aber neugierig; beobachtend, aber distanziert. Darin, wie er sich beim Anzünden einer Kippe mit der Streichholzschachtel in der Handfläche den Wind abzuhalten versucht, die Finger bemüht affektiert anspannt, lässt sich ablesen, wie genau der Blick für Details des Films ist, wie geradezu heilig dem Regisseur der präzise Nachvollzug von jugendlichen Gesten und Bewegungen ist.
Gezielt und bedeutungsreich gewählt sind dabei auch die Schauplätze: eine gepflasterte Unterführung an der Autobahn, an der sich Simon und Marie das schal gewordene Wasser aus einer Plastikflasche teilen, ein angeranztes Sofa, das jemand ans Seeufer geschleppt hat und auf dem die beiden mit Simons Handy gemeinsame Selfies schießen. Die überbordende Fülle all dieser Einzelheiten ist es, die aus einem weit zurückliegenden ereignislosen Nachmittag etwas macht, das in der Erinnerung ein ganzes Leben nachhallt.
Fazit: Vom jugendlichen Herumdriften und Abhängen, Rumlabern und Anbandeln an einem heißen Sommertag erzählt Willy Hans in seinem Langfilmdebüt zwischen Coming-of-Age-Melancholie und eigenwilliger Experimentalfilmästhetik. Damit hat „Der Fleck“ das Zeug zum zukünftigen Teenager-Klassiker!