Eine folgenschwere Backpfeife
Von Christoph PetersenAlles beginnt mit einer Schelle, die sich gewaschen hat. In Superzeitlupe bekommt die zwölfjährige Schülerin Marielle (Laeni Geiseler) eine geknallt, nachdem sie ihre beste Freundin zuvor als „Schlampe“ bezeichnet hat. Aber der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Was Marielle weiß“ ist keiner dieser Filme wie „Gott des Gemetzels“ oder „Armand“, wo sich Eltern und Lehrkörper bei der Diskussion eines (lapidaren) Pausenhofvorfalls um Kopf und Kragen reden.
Stattdessen erinnert die fantastisch angehauchte Komödie von „Modell Olimpia“-Regisseur Frédéric Hambalek eher an die eigenwillig-skurrilen Werke von Sandra Wollner („The Trouble With Being Born“) oder Yorgos Lanthimos denken. Denn die Backpfeife hat unerwartete Folgen: Marielle kann plötzlich sehen und hören, was ihre Eltern sehen und hören – auch wenn diese gerade gar nicht in der Nähe, sondern bei der Arbeit oder beim Sport sind.
Die Eltern bekommen erstmals beim Abendessen eine Kostprobe von den unfreiwillig erworbenen Fähigkeiten ihrer Tochter. Als sie von ihrem Tag erzählen, werden sie nämlich „berichtigt“: Tobias (Felix Kramer) arbeitet in einem Buchverlag und berichtet stolz, wie er einen aufmüpfigen Konkurrenten (Moritz von Treuenfels) in die Schranken gewiesen hat. Aber Marielle weiß es besser, denn natürlich hat ihr Papa auch diesmal wieder feige den Schwanz eingezogen.
Mama Julia (Julia Jentsch) bekommt unterdessen einen Rüffel, weil sie heimlich geraucht hat. Den sexuell sehr anzüglichen Flirt mit ihrem Kollegen (Mehmet Atesci) behält Marielle hingegen erst einmal für sich, auch wenn sie sich wegen der Ehe ihrer Eltern fortan große Sorgen macht….
Mit seiner nur vermeintlich simplen Prämisse schneidet „Was Marielle weiß“ gleich eine ganze Reihe hochspannender Themen an: Da sind etwa die verschiedenen Rollen, die jeder Mensch in unterschiedlichen Situationen einnimmt – als Vater, als Ehemann, als Berufstätiger oder eben ganz privat für sich selbst. Aber wie soll man überhaupt noch funktionieren, wenn plötzlich die eigene Tochter zum ultimativen Überwachungs-Device mutiert?
Zugleich legt der auch für das Drehbuch verantwortliche Frédéric Hambalek die ganze Floskelhaftigkeit des Spruchs „Ich lebe für meine Kinder“ offen: Das sagt sich schließlich ganz besonders leicht daher, aber wenn das eigene Kind einen rund um die Uhr beobachtet und dabei potenziell jede Handlung nach seinen eigenen Maßstäben bewertet, ist das natürlich noch mal eine ganz andere Nummer.
Tobias und Julia sind weder (besonders) schlechte Eltern noch Menschen. Aber „Was Marielle weiß“ ist sehr geschickt darin, unser ganz alltägliches Maß an Verlogenheit offenzulegen. Marielles seherische Fähigkeiten werden zwar nie visuell veranschaulicht, auch wir als Publikum können uns also nur auf ihre Aussagen und Erklärungen verlassen, doch die klingen sehr überzeugend.
Trotzdem können die Eltern ihrer Tochter lange Zeit nicht helfen oder beistehen, weil sie dafür ja zunächst einmal gegenüber ihrem Ehepartner zugeben müssten, dass Marielle die Wahrheit sagt. Aber sich und anderen die eigenen Schwächen einzugestehen, ist offenbar viel schwerer, als die Worte der eigenen Tochter erst mal als bloße Spinnereien hinzustellen.
Trotz seines auch mal schmerzenden satirischen Bisses punktet „Was Marielle weiß“ aber auch mit einer Menge (schwarzem) Humor. Da muss man wie gesagt an die Filme von Yorgos Lanthimos („The Killing Of A Sacred Deer“) denken. Manche Szenen könnte man sich allerdings auch in einer Slapstick-Komödie mit Jim Carrey, Adam Sandler oder Will Ferrell vorstellen. Dazu gehört etwa der Moment, als Julia erstmals nach der Dauerüberwachungs-Erkenntnis im Büro von ihrem Kollegen mit sexuellen Eindeutigkeiten angeflirtet wird.
Weil sie ja weiß, dass Marielle „mithört“, versucht sie alles augenblicklich für ihre – ja nicht selbst anwesende – Tochter zu relativieren, als würde da noch ein unsichtbarer Gast mit im Raum stehen. Später hat die Mutter sogar tatsächlich Sex – allerdings erst, nachdem sie eine Stellung gefunden hat, in der zumindest der an die Tochter „übertragene“ Blick möglichst jugendfrei bleibt. Da darf dann selbst im Arthouse-Kino ganz laut mitgelacht werden.
Fazit: Auf so etwas muss man erst mal kommen! Frédéric Hambalek hat für „Was Marielle weiß“ die perfekte Prämisse gefunden, um unsere ganz alltägliche Verlogenheit im Umgang miteinander offenzulegen. Ganz schön clever und dazu oft auch noch saulustig.
Wir haben „Was Marielle weiß“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo der Film seine Weltpremiere als Teil des offiziellen Wettbewerbs gefeiert hat.