Kollektives Sturmfrei
Von Christoph PetersenMan mag von ihnen halten, was man will, aber die Filme des 2022 verstorbenen Regisseurs Roland Reber sind definitiv einzigartig. In Gemeinschaft mit dem von ihm selbst begründeten Künstler*innen-Kollektiv wtp schuf er radikal-artifizielle Kinoexperimente wie „24/7 - The Passion Of Life“ oder „Mein Traum oder Die Einsamkeit ist nie allein“, in denen hochtrabende Theatralik auf einen billigen Do-It-Yourself-Gestus, identitätstheoretisches Philosophie-Proseminar auf küchenpsychologische Selbstanalyse und ein sexpositives feministisches Manifest auf ausgestellte Altherrenfantasien prallen. Die Erkenntnis von „Engel mit schmutzigen Flügeln“ lautet schließlich nicht von ungefähr gleichermaßen tiefschürfend wie banal: „Ich ficke, also bin ich“. Und für „Der Geschmack von Leben“ wurde direkt ein Porzellanpenis mit Strohhalm in der Harnröhre als Plakatmotiv gewählt.
Sechs Jahre nach seinem letzten Film „Roland Rebers Todesrevue“ und drei Jahre nach seinem Tod startet nun der erste Spielfilm in den Kinos, den das wtp-Kollektiv ohne seinen einstigen kreativen Kopf auf die Beine gestellt hat. Ein gewisser Wechsel in der Tonart lässt sich dabei bereits während des Vorspanns von „Überall gibt es ein Hausen“ ausmachen: Die Namen und Tätigkeiten stehen dort mit teils kunterbunten Buchstaben geschrieben, was man so eher von Kinderfilmen gewohnt ist – und tatsächlich geht es auch danach erst einmal unerwartet leicht weiter in dieser Selbstfindungs-Komödie, in der sich sieben Frauen zu einem einwöchigen „Sturmfrei“-Seminar zusammenfinden. Doch die üblichen wtp-Elemente tauchen später trotzdem noch auf – was Fans beruhigen, aber auch so manchen zufälligen Kinobesuchenden ganz schön vor den Kopf stoßen dürfte.
Eigentlich weiß niemand so genau, was man sich unter einem „Sturmfrei“-Seminar vorzustellen hat. Für die Mama-Influencerin Luisa (Amelie Köder) bedeutet es zunächst einmal Abstand von Mann und Kindern – auch wenn sie jeden Abend nervös auf eine Nachricht wartet, dass zu Hause alles in Ordnung ist. Die Postbotin Marion (Ute Meisenheimer) freut sich hingegen vor allem darauf, endlich mal eine Woche lang keine Briefe austragen zu müssen – und irgendwas hat das Ganze sicherlich auch mit Selbstfindung oder dem Finden zu sich selbst zu tun. Die Leitung liegt unterdessen bei Franzi (Mira Gittner), aber das vor allem, weil sie mit dem Wochenendhaus ihres Vaters Erich (Herbert Fischer) den Seminarort zur Verfügung stellt.
Während sich die „Sturmfrei“-Frauen bewusst keine festen Vorgaben für die Abläufe auferlegen, hat Franzis passiv-aggressiver Bruder Karsten (Thomas Bastkowski) eine ganze Liste mit Hausregeln auf dem Tisch hinterlassen. So eskaliert nebenher ein Familienstreit um das väterliche Haus, während sich die Seminar-Teilnehmerinnen bei Gesprächsrunden oder anderen Aktivitäten immer wieder annähern – nur um im nächsten Moment wieder völlig aneinander vorbeizureden...
„Überall gibt es ein Hausen“ ist in einer „Kollektiv-Regie“ entstanden, wie die Verantwortlichen selbst es nennen: Alle haben sich selbst um die Ausgestaltung ihrer Figuren samt Kostümen und Maske gekümmert, am Set wurden dann nach den groben Vorgaben des skizzenhaften Drehbuchs die Szenen ausgearbeitet – und wie die Teilnehmenden des Seminars kannten sich auch einige der Schauspielenden vor Drehbeginn noch nicht, was noch mal eine ganz neue Dynamik in die Zusammenarbeit eingebracht hat. Das Ergebnis sind einige wunderbar authentische, zumindest gefühlt spontane Momente, die so wohl kaum zustande gekommen wären, wenn sie sich zuvor eine einzelne Person im stillen Kämmerlein zurechtgelegt hätte. Definitiv ein großes Plus.
Zugleich weichen u. a. die Schauspielstile aber massiv voneinander ab: Wo etwa wtp-Urgestein Mira Gittner wie in den Roland-Reber-Werken noch immer eine prosaische Theatralik an den Tag legt, hält Newcomerin Helena Sattler als Marie mit einer konsequenten Natürlichkeit dagegen. Manchmal passt das sogar recht gut, zum Beispiel weil Marie als Jüngste im Bunde mit ihren veganen Weltenrettungs-Ambitionen ohnehin ein wenig aus der Gruppe herausfällt. Aber oft wirkt es auch einfach beliebig, genauso wie eine Reihe von Regieeinfällen: Warum die Teilnehmenden immer wieder vor einer blauen Wand in Richtung der Kamera sprechen, als wären sie in einer Mockumentary wie „Stromberg“ oder Kandidatinnen bei „LOL: Last One Laughing“ bleibt bis zum Ende unklar.
Apropos Ende: „Überall gibt es ein Hausen“ kommt ohne klassische Pointe aus, was wohl auch am kollektiven Ansatz liegt, der eben eine größtmögliche Offenheit des Drehbuchs voraussetzt. Stattdessen verliert sich die zunächst noch bodenständige Erzählung zunehmend in surrealistischen Einschüben, die ebenfalls kaum wie aus einem Guss wirken, aber dafür nebenher noch ein gewisses Roland-Reber-Best-of mit abfeuern. Das wird wie gesagt wtp-Fans freuen, die vielleicht sogar schon Angst hatten, dass das Kollektiv nun plötzlich halbwegs „normale“ Filme dreht. Aber wer nach den bunten Buchstaben im Vorspann auf eine reine Wohlfühl-Impro-Comedy mit ein paar einzelnen satirischen Spitzen nach dem Vorbild von Jan George Schütte („Swinger Club“, „Wellness für Paare“) gehofft hat, der wird sich speziell in der zweiten Hälfte noch ganz schön umgucken.
Fazit: Selbstfindungs-Seminar-Komödie mit durchaus einnehmendem DIY-Charme, bei der sowohl die Vorteile als auch die Nachteile eines Kollektivansatzes beim Filmemachen offen zutage treten.