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    Esmas Geheimnis
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Esmas Geheimnis
    Von Samuel Rothenpieler

    Die „bucklige Frau“ wähnt sich in einer „heilen“ Welt, ihre traurigen Augen aber verraten mehr, als ihr recht ist. Sie sprechen von Trauer und Schuld, Liebe und Hass, Anklage und Vergebung. Sie ist im Krieg geboren und gebar ihr Kind im Krieg – die Menschen erfanden traurige Lieder über sie und priesen ihre Schöpfung in schmerzlichen Wehklagen und volkstümlichen Harmonien. „Grbavica“ ist ein Stadtteil Sarajevos und bedeutet ursprünglich „bucklige Frau“. Zufall? Vielmehr zeigt diese Frau unleugbare Gebrechen – Krankheit, Einsamkeit, vielleicht Sehnsucht? Ihre Haltung weist auf ein beschwerliches und geplagtes Leben hin. Vielleicht verbirgt sie ein Geheimnis, das sie am liebsten mit ins Grab nimmt. Viele Orte und noch mehr Menschen tragen ein solches Geheimnis in sich, das die Zeit und das geschäftige Leben überdauern, ohne je in Gänze hervorzutreten. Berlin ist solch eine schicksalsträchtige Stadt, die Tausende Geheimnisse hütet und eben auch Sarajevo, wo das Drama „Esmas Geheimnis - Grbavica“, Jasmila Zbanics bei der Berlinale mit einem Goldenen Bären ausgezeichnete Geschichte von Esma und ihrer Tochter Sara von einem dieser vielen Geheimnisse erzählt.

    Esma (Mirjana Karanovic) und ihre Tochter Sara (Luna Mijovic) leben im Sarajevo der Nachkriegszeit. Saras Vater starb in den Jugoslawien-Kriegen den Märtyrertod als „Schechid“, einer Gruppe von Kriegshelden, die die Heimat vor der Jugoslawischen Volksarmee mit ihrem Leben verteidigten. Sie führen ein bescheidenes Leben, ein vermeintlich glückliches, dadurch, dass sie immer zusammenhalten und sich gegenseitig Kraft und Mut spenden, um die Unsicherheiten und Gefahren des nächsten Tages zu bestehen. Esma nimmt einen Job als Kellnerin in einem Nachtclub an, nachdem die monatliche Sozialhilfe des Staates nicht mehr für sie und ihre Tochter ausreicht. Ihr größtes Anliegen ist es, ihrer Tochter eine möglichst schöne und unbeschwerte Kindheit und Jugend zu ermöglichen – wozu das Geld natürlich nicht fehlen darf. Bei ihrer neuen Arbeit lernt sie auch Pelda (Leon Lucev) kennen, der, wie sie, ein „Geheimnisträger“ ist und zu ihrem Seelenverwandten und Liebhaber wird. Sara passt dies ganz und gar nicht. Sie sieht in Pelda ihren größten Konkurrenten um die Liebe und Fürsorge der Mutter. Zugleich erfährt sie die Liebe zwischen Mann und Frau als etwas Schönes und Natürliches. Sie kämpft mit den alltäglichen Sorgen der Pubertät, aber auch mit denen der Vergangenheitsbewältigung. An Samir, einem Schulfreund, lernt sie, zu lieben. Als die Klasse von Sara einen Schulausflug macht, bittet sie die Mutter um eine Urkunde, die bezeugt, dass ihr Vater ein Kriegsheld ist, um an der Fahrt kostenlos teilnehmen zu können. Die Mutter jedoch hat mit anderen Sorgen zu kämpfen. Ihr Geheimnis droht, hervorzutreten - ein quälendes Geheimnis des jahrelangen Krieges bei der Belagerung Sarajevos, das der Grund für ihre gepeinigte Seele ist und das die Tochter nicht erfahren darf.

    „Esmas Geheimnis - Grbavica“ erzählt von alltäglichem Leben und alltäglichen Dingen in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, Sarajevo. Vordergründig zeigt es auch nur alltägliche Sorgen - von der Pubertät, dem Erwachsenwerden, finanziellen Engpässen, vom Verwirrspiel der Liebe und Leidenschaft, Freundschaften und Feindschaften. Die hintergründige Wahrheit allerdings schwelt stets unter der Oberfläche wie ein eruptiver Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Esma ist hin- und her gerissen zwischen glücklichen und verzweifelten Momenten, manchmal sind diese überhaupt nicht voneinander zu unterscheiden und gehen fließend ineinander über. Sie ist die Person, als Handlungsträger, die über die Emotionen und die Wendungen des Films verfügt - unstetig wie das eigentliche Leben, unsicher wie die Gefühlszustände selbst. Die unbedarfte Sara dagegen lacht und leidet zwangsweise mit ihrer Mutter. Ihr Geheimnis des verlorenen Vaters lastet zwar auch auf ihr, dennoch gilt ihre größte Sorge der Mutter, die ihre Ängste und Vergangenheit in der örtlichen Selbsthilfegruppe für kriegsgeschädigte Frauen zu bewältigen versucht. Der ganze Konflikt und die Zerrüttungen der Beziehungen, unsichtbare Barrieren und unterdrückter Hass, zeigen sich derweil als Sklaven eines einzigen Ursprungs: der Wahrheit, derjenigen „kosmischen Kraft“, die laut Regisseurin Jasmila Zbanic „notwendig für den Fortschritt ist und die so sehr von den Menschen in Bosnien und Herzegowina gebraucht wird, um gesellschaftliche Reife zu erlangen“.

    Vor allem Mirjana Karanovic („When Father Was Away On Business“; Das Leben ist ein Wunder) verleiht „Esmas Geheimnis - Grbavica“ durch ihre mutige Darstellung der Geheimniskrämerin Esma eine beachtliche Reife. Ihr Anspruch, eine psychisch gestörte und dennoch lebensbegierige Frau des Krieges zu porträtieren, die soviel Wut und Verzweiflung, gleichsam soviel Liebe und Vergebung in sich trägt, ist überdurchschnittlich gut gelungen. Man empfindet ihre Last und Liebe als traurigen aber ehrlichen Beweis dafür, was es heißt, als Mensch zu fühlen. Dieses Charakteristikum ihrer Seele wird am eindringlichsten in der Beziehung zu ihrer Tochter deutlich: Liebkosung und Herzlichkeit werden in unverständlicher Regung zur gewalttätigen Prügelei und Hass, ein liebes Wort verwandelt sich unmerklich in bitteres Gift. Die Frage letztendlich bleibt, welches der beiden Prinzipien als Residual der Wahrheit übrig bleibt und, ob die Akzeptanz der Wahrheit den versprochenen „Fortschritt“ gewährleistet. Der Film lässt den schmalen Grat zur Bewältigung der leidvollen Vergangenheit mit einem vagen Hinweis abklingen - wie eh und je stirbt die Hoffnung zuletzt.

    Regisseurin Jasmila Zbanic erreicht mit „Esmas Geheimnis - Grbavica“ ihr Ziel, einen bewegenden Film über das Nachkriegsleben der leidgeprüften Familien der Jugoslawien-Kriege zu kreieren. Dabei bleibt die Aussage nicht auf ein Einzelschicksal beschränkt, sondern weist Bezüge zum Krieg, aber auch zum Leben und dem menschlichen Leid im Allgemeinen auf, ohne jedoch darüber zu sprechen. Der Krieg wird nicht thematisiert, sondern entzieht sich als gegebene Form menschlichen Miteinanders beziehungsweise historischer Schicksalhaftigkeit – wenn auch mit negativem Unterton – jeder offensichtlichen Diskussion. Der Regisseurin jedoch gelingt gerade durch diese Armut an Thematisierung des eigentlichen Problems und durch die Konzentration auf ein einzelnes Schicksal, einer kleinen Geschichte, eine universelle Anklage an den Krieg und seine Opfer. Auf diese Weise wird erkennbar, was der Krieg für die Menschen bedeutet, aber vor allem, was er hinterlässt und wie er vom Einzelnen angenommen und verarbeitet wird – der Film zeigt diesen stets individuellen Prozess im Lichte ohnmächtiger Willfährigkeit der Beteiligten und als einen akzeptierten Konsens der Resignation.

    In „Esmas Geheimnis - Grbavica“ präsentiert sich die Wahrheit unweigerlich als diejenige Kraft, oder besser als das phänomenale Problem, mit dem Menschen seit jeher zu kämpfen haben. Lügen und Unterdrückung von „wahren“ Gefühlen scheinen manchmal die sicherere und einfachere Variante zu sein, das Leben zu bestehen. Was die Folgen solch einer verhinderten Vergangenheitsbewältigung auslösen, versucht der Film aufzudecken. Dass „Esmas Geheimnis - Grbavica“ in seiner Heimat boykottiert wurde und zahlreiche Filmspielhäuser sich weigerten, den Film ins Programm aufzunehmen, aber auch jüngst, die feierliche Beilegung Slobodan Milosevics in seiner serbischen Geburtsstadt offenbaren leider, dass bei weitem noch nicht jeder bereit ist, die Wahrheit als das Ursprüngliche, als sein Schicksal anzunehmen, um damit zu leben. Es ist gleichzeitig auch ein Beweis dafür, wie sehr die Menschen in diesen Regionen der Erde mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen haben und ein Hinweis darauf, wie viel Arbeit und unerlässliche Reifeentwicklung noch geleistet werden muss, um einen „gesunden“ und ehrlichen Weg, ohne Geheimnisse, in die Zukunft zu finden. Die Wahrheit zu lieben und ein entsetzliches Schicksal anzuerkennen fällt niemandem einfach – „Esmas Geheimnis - Grbavica“ jedoch ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

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