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    Das kurze Leben des Jóse Antonio Gutierrez
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Das kurze Leben des Jóse Antonio Gutierrez
    Von Christian Horn

    Die besten Geschichten schreibt das Leben noch immer selbst: José Antonio Gutierrez verbringt seine Jugend als Straßenkind in Guatemala, auf der hoffnungslosen Suche nach seiner Schwester; die Eltern sind gestorben, als er jung war. Schließlich wird er im Waisenhaus von Guatemala aufgenommen und versorgt, geht aber immer wieder auf die Straße zurück, lungert in den Parks herum und schnüffelt Klebstoff. Sein Traum ist es, Architekt zu werden, um sich ein Haus bauen zu können. Als er volljährig wird – die Betreuungszeit im Waisenhaus läuft somit ab – , versucht er sein Glück auf dem Weg nach Norden, nach Amerika, dass für viele immer noch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Auf insgesamt 40 Güterzüge springt er auf und fährt mit vielen anderen als blinder Passagier zwischen den Wagons mit. In Los Angeles lebt er zunächst wieder auf der Straße, wird dann in verschiedene Pflegefamilien aufgenommen und besucht die High School, obwohl er nur gebrochen Englisch spricht. Nach dem College will er noch immer Architekt werden und sogar ein Buch über seine Erlebnisse auf der Straße schreiben. Um eine „Greencard“ zu bekommen, also das Aufenthaltsrecht in den USA, verpflichtet er sich bei den Marines und zieht nach der Grundausbildung als einer von 300.000 „Greencard“-Soldiers in den Krieg gegen den Irak. Und so kommt es, dass José Antonio Gutierrez der erste Soldat wird, der auf amerikanischer Seite im Irakkrieg fällt.

    Die versierte Dokumentarfilmerin Heidi Specogna verfolgt in ihrem Film „Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez“ den Weg Gutierrez’ von seinem Leben als Straßenkind im Bürgerkrieg bis zu seinem Tod auf dem Schlachtfeld, wenige Minuten nach Beginn des Krieges. Gestorben ist er durch „Friendly Fire“, also eine verirrte Kugel der eigenen Kameraden. Specogna macht sich die fesselnde Geschichte vom Leben Josés zum Verbündeten und erschafft durch ihre Inszenierungsweise einen spannend und ehrlich erzählten Dokumentarfilm. Sie geht die verschiedenen Stationen Josés nach, lässt Bekannte von ihm zu Wort kommen und verknüpft den Weg ihres Protagonisten mit ähnlichen Schicksalen. Und gerade darin liegt das Faszinierende an dem Film: Josés Geschichte ist eine von Hunderten. Die Güterzüge, mit denen er nach Norden reist, sind vollgepackt mit blinden Passagieren, die sich während der Fahrt zwischen den Wagons festhalten. Und als der Film Josés Jugend als Straßenkind zeigt, sehen wir Bilder von anderen Kindern, die auf der Straße leben. Von Josés Tod im Lazarett berichtet ein Kamerad, der ebenfalls Latino ist und nun im Irak für ein fremdes Land kämpft. Specogna erzählt also nicht nur die Geschichte von José Antonio Gutierrez, sondern entwirft ein vielschichtiges Bild von den gesellschaftlichen Zuständen, in denen ihr Protagonist lebte (und in denen heute, genau in diesem Moment, andere leben). Sie ruht sich nicht auf der an sich schon spannenden und erzählenswerten Geschichte aus, sondern weiß sie geschickt und intelligent zu erzählen und ihr somit eine neue Dimension zu geben.

    Immer wieder werden zwei Fotos Josés eingeblendet, eins als Junge im Waisenhaus und eins in Uniform, kurz vor seinem Tod. Dem Zuschauer wird er immer vertrauter, die Fotos werden zu Symbolen für den gesamten Weg und brennen sich ein. José war zeit seines Lebens auf der Suche nach einer Familie, nach Geborgenheit und einem Platz im Leben. Seine Schwester, die er im jungen Erwachsenalter schließlich gefunden hat, berichtet uns von dem Wiedersehen: wie sich beide in den Armen lagen und weinten. Gerade diese Szene ist ein gutes Beispiel für das große Herz, das die Regisseurin in vielen kleinen Momenten des Films beweist. Mit einem liebevollen und trotzdem neutralen, dokumentarischen Blick präsentiert sie ihre Geschichte, die von Kameramann Rainer Hoffmann in schnörkellosen, poetischen Bildern gefasst wird. Eines der stärksten Bilder ist das bereits erwähnte von dem mit Flüchtlingen bepacktem Güterzug. In einem Augenblick wird dem Zuschauer die ganze Tragweite der gesellschaftlichen Misere der mittel- und südamerikanischen Länder deutlich – und er wird daran erinnert, wie viele Schicksale daran hängen.

    Quasi im Vorbeigehen berichtet Specogna von einer jungen Mutter, die mit ihrem Kind auf der Straße lebt, von den Zuständen am mexikanisch-amerikanischem Grenzübergang oder dem ersten Scharmützel im zweiten Irakfeldzug. Die durchaus vorhandenen Schauwerte der dokumentierten Biographie stellt der Film in keiner Weise aus. Anstatt Josés Tod mit Geigen zu begleiten, lässt Specogna den Kameraden sprechen, der neben José stand, als dieser im Lazarett starb. Dieser erinnert sich noch daran wie kalt es in dem Raum war und wie furchtbar es für ihn gewesen ist, dass er die letzten Worte des Sterbenden nur bruchstückhaft verstanden hat. Und so bekommen wir ungefiltert – wenigstens in dem Rahmen, in dem Film ungefiltert Realität abbilden kann – Josés Ende zu spüren.

    Der Weg Josés kann als Negierung oder zumindest Relativierung des amerikanischen Traumes verstanden werden. Heidi Specogna zeigt Menschen, die nach einem Ideal streben, das anhand eines Einzelschicksals auf den Boden der Tatsachen geschmettert wird. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, das ihr Protagonist den Tod ausgerechnet durch „Friendly Fire“ findet. Er stirbt den Heldentod für ein Land, das nicht seine Heimat ist und das in dem Bürgerkrieg mitmischte, der seine Kindheit bestimmte. Und dass die letzte Pflegefamilie Josés in den USA jetzt mit Hollywood über die Filmrechte verhandelt, ist ein überdimensionales i-Tüpfelchen. Man darf dankbar sein, dass Heidi Specogna das Schicksal des ersten gefallenen Soldaten im „Desert Storm“ in einer raffinierten und auf Effekthascherei komplett verzichtenden Dokumentation porträtiert hat und die Welt nicht nur durch die Dollarbrillen Hollywoods von José Antonio Gutierrez’ Biographie erfährt.

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