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    Synecdoche, New York
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Synecdoche, New York
    Von Christian Roman

    „The usual thing for a writer is to deliver a script and then disappear. That's not for me. I want to be involved from beginning to end.” Dieses Statement stammt aus einem Interview der Seattle Post mit Charlie Kaufman aus dem Jahr 2004. Zwar hatte der Drehbuchautor bereits mit Regisseuren wie Spike Jonze (Adaption) oder Michel Gondry (Vergiss mein nicht) auch noch während der Dreharbeiten eng zusammengearbeitet. Ein eigenes Projekt sollte Kaufman aber erst im Jahr 2008 verantworten dürfen. Und es kam, wie es kommen musste: Kaufmans Regiedebüt „Synecdoche, New York“ bricht die Konventionen des Erzählkinos kompromisslos auf und entführt den Zuschauer für zwei Stunden in eine eigenwillige Tragikomödie, die noch lange nachklingt.

    Irgendwo in New York: Der Theaterregisseur Caden Cotard (meisterhaft: Philip Seymour Hoffman) schleppt sich durch den großstädtischen Familienalltag. Frühstück mit Tochter Olive (Sadie Goldstein), ein belangloses Gespräch mit seiner Ehefrau Adele (Catherine Keener), ein defekter Wasserhahn, der ihm ins Gesicht schmettert. Zugegeben, der Wasserhahn kam unerwartet. Alles, was nun folgt auch. Cadens Körper scheint plötzlich zu verfallen. Auf seiner Haut bilden sich hässliche Ekzeme, Krampfanfälle und Psychosen plagen den inzwischen depressiven Hypochonder. Zu allem Übel brennt seine Frau auch noch mit der gemeinsamen Tochter nach Berlin durch. Cadens Existenz droht sich in die Belanglosigkeit zu verabschieden. Doch es kommt anders: Der Theaterregisseur erhält ein begehrtes Stipendium, das es ihm erlaubt, ein einzigartiges Kunstwerk zu schaffen. In einem gigantischen Lagerhaus lässt Caden eine lebensgroße Replik der US-Metropole entstehen. Das fiktive New York, in dem sich hunderte Statisten tummeln, dient als monumentale Kulisse, in der Cadens Leben selbst die Hauptrolle spielt. Doch die Erschaffung einer fiktiven Realität bedeutet nichts anderes als die Flucht aus der selbigen…

    Kaufmans Erstlingswerk ist der Albtraum aller Kritiker, denn „Synecdoche, New York“ auf einen Kerngedanken zu reduzieren, ist zwecklos. Zu viele Fragen wirft der Regisseur auf. Antworten liefert Kaufman hingegen nicht. Doch genau darin liegt die Einzigartigkeit dieses Films. Sinn (oder Unsinn) des Gezeigten zu ergründen, liegt allein beim Zuschauer. „Synecdoche, New York“ gleicht dabei der Betrachtung eines Spiegels durch einen Spiegel. Mit der Rekonstruktion der Wirklichkeit im Lagerhaus führt Kaufman eine zweite, dritte und vielleicht sogar vierte Erzählebene ein. Caden Cotard, also der „echte“ Caden, schaut vom Regiestuhl aus seinem schauspielernden Ich im Lagerhaus über die Schulter, wie der fiktive Caden einem dritten Caden Regieanweisungen gibt – eine Art fiktive Fiktion also, die ein Paralleluniversum im Paralleluniversum zu erschaffen scheint, in dem fiktive Realität und reale Fiktion einander zu verschlingen drohen. Das ist genial und darf als Kaufmans Reminiszenz an die Kunst des Filmemachens an sich gedeutet werden.

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    Auf einen zentralen Gedanken lässt sich Kaufmans komplexes Werk dann aber doch festlegen - ironischerweise die Banalität des Individuums an sich. Der von Todesangst zerfressene Caden Cotard blickt auf sein bedeutungsloses Leben zurück. Die Erschaffung eines Mikrokosmoses über Jahrzehnte hinweg, in dem er die Hauptrolle spielt, ist nichts anderes als der panische Drang nach existenzieller Selbstverwirklichung, der Versuch seinen nachhaltigen Platz in der Menschheitsgeschichte zu ergattern. Sein Lebenswerk wird es nie bis zur Aufführung schaffen, doch die Flucht in die Kunst, in eine fiktive Realität, hilft Caden der Sinnlosigkeit seiner eigenen Existenz zu entfliehen. Am Ende erkennt ein sichtlich gealterter Caden seinen Irrtum: „Es gibt circa 13 Millionen Menschen auf der Welt und keiner dieser Leute ist ein Statist. Sie sind alle Hauptrollen in ihrer eigenen Geschichte. Man sollte ihnen Respekt entgegen bringen.“

    Fazit: „A great film. See it twice.“ – so der Werbespruch auf dem DVD-Cover von „Synecdoche, New York“. In der Tat offenbart sich erst auf den zweiten oder dritten Blick die wahre Größe des zutiefst pessimistischen Regiedebüts von Charlie Kaufman. Die Geschichte in der Geschichte in der Geschichte verlangt seinem Publikum alles an Aufmerksamkeit ab. Antworten auf seine Fragen liefert Kaufman in seinem Film nicht. Vielmehr konstruiert er nur ein Handlungsgerüst auf einem Fundament aus Einsamkeit, Existenzangst und Vergänglichkeit. Die Deutung des Gesehenen überlässt er jedem Zuschauer selbst. Das ist zwar zuweilen mühsam, aber dennoch: Sind es nicht eben diese Werke, deren Sinn wir noch lange Zeit zu deuten versuchen, die uns am meisten faszinieren?

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