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    Hamburger Lektionen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Hamburger Lektionen
    Von Andreas Staben

    In einer Zeit, in der die Gefahr terroristischer Anschläge auch in Deutschland konkret empfunden wird, nimmt die Auseinandersetzung um Fragen wie Religionsfreiheit, Bürgerrechte und Sicherheitspolitik an Schärfe zu. Leider geht damit keine ernsthafte Ausdifferenzierung der Debatte einher, vielmehr werden viel zu oft Klischees befördert, Ängste geschürt und ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht gestellt. Einen den medialen Aufgeregtheiten gänzlich entgegengesetzen Beitrag zum Thema des islamischen Fundamentalismus bietet Romuald Karmakars („Der Totmacher“, „Die Nacht singt ihre Lieder“) rigoros reduzierter Dokumentarfilm „Hamburger Lektionen“. In ihm verliest der Schauspieler Manfred Zapatka (Falscher Bekenner, Der freie Wille) den ungekürzten Text zweier religiöser Unterweisungen, die der mittlerweile in Marokko inhaftierte Imam Mohammed Fazazi im Januar 2000 in der Hansestadt gegeben hat. Der Film ermöglicht dem Zuschauer Zugang zu einer Welt, die ihm sonst verborgen bleibt, und bietet verstörende Einblicke in die Rhetorik und die Denkmuster eines Geistlichen, für den der Begriff Hassprediger nur allzu angemessen erscheint.

    Hinter einer unscheinbaren Hamburger Bürofassade, in der noch heute dort untergebrachten Al-Quds-Moschee, predigte und lehrte Mohammed Fazazi mehrere Jahre lang. Auch drei der Selbstmordattentäter des 11. September 2001 gehörten um die Jahrtausendwende zu den Stammgästen der Moschee. Fazazi veranstaltete auch Lehrstunden, bei denen er Fragen beantwortete und ausführliche Erläuterungen und Anweisungen zu allen erdenklichen Themen gab. Ein Unbekannter nahm drei dieser Lektionen auf Video auf, bald wurden Kopien verkauft und fanden weite Verbreitung. Karmakar ließ die Texte von einem bis zu zehnköpfigen Team in minutiöser Kleinarbeit übersetzen und diese Übertragung der beiden noch datierbaren Veranstaltungen vom 2. und 5. Januar 2000 trägt Zapatka vor.

    Fazazi gehört zu den Vertretern des Salafismus. Die Anhänger dieser Richtung glauben, dass nur der Prophet Mohammed und seine Gefährten sowie die beiden folgenden Generationen das islamische Ideal erfüllt haben. Unerwünschte Neuerungen hätten danach zu einer Verwässerung der reinen Lehre geführt. In den Lektionen kritisiert er immer wieder solche Veränderungen, vom Einsatz bestimmter Gebetsformeln bis zur Datierung des Ramadan. Schnell wird auch der allumfassende Anspruch seiner Lehre deutlich, denn die Religion sei vollkommen und mische sich ausnahmslos in alle Bereiche des Lebens ein. Neben praktischen Fragen (eher solle der Gläubige betteln als Alkohol verkaufen) steht vor allem das Verhältnis zu den Nicht-Muslimen, den Ungläubigen, im Zentrum.

    Aus der historischen Kolonialisierung islamischer Länder durch den Westen, die er als Krieg mit dem Ziel wirtschaftlicher Ausbeutung bis heute fortgesetzt sieht, leitet Fazazi die Antastbarkeit von Besitz und Leben der Ungläubigen ab. Wer bei einer demokratischen Wahl seine Stimme abgebe, unterstütze damit dieses System und führe in diesem Sinne auch persönlich Krieg gegen die Muslime. Ein Anspruch auf Schonung bestehe daher nicht. Das kann im übrigen auch für islamische Staaten gelten - Saudi-Arabien sei in mancher Hinsicht „schlimmer als Deutschland“. Feindlichen Ungläubigen müsse „der Hals abgeschnitten“ werden. Fazazi ruft nie offen zu Gewalt- oder anderen Straftaten auf, sondern macht seine Ansichten indirekt deutlich. Wenn es sein müsse, die Ungläubigen zu bestehlen, dann solle man auch aus taktischen Gründen besser eine Bank überfallen als eine Tube Zahnpaste zu entwenden. Nachdem er in seiner eigenen Logik die Notwendigkeit von Gewaltakten angedeutet hat, braucht Fazazi die Konsequenz nicht mehr auszusprechen. Statt einer klaren Anweisung wiederholt er immer wieder die Formel: „Gott weiß es besser.“ Dass er dennoch verstanden wird, zeigt der Ruf „Dschihad“ aus der Zuhörerschaft.

    Auch diese Reaktionen und die Fragen aus den Reihen des Auditoriums werden wie ein Protokoll von Manfred Zapatka vorgetragen. Anmerkungen der Übersetzer, Erläuterungen zu einzelnen Begriffen und Originalbezeichnungen sind in den Fluss der Rede eingebaut. Weitere Umstände wie Geräusche im Hintergrund werden durch kurze Texteinblendungen mitgeteilt. Alle Informationen werden übermittelt, aber jede äußerliche Rekonstruktion wird vermieden. In nur zwei Tagen haben Karmakar und Zapatka die Aufnahmen mit einem kleinen Team in Babelsberg abgeschlossen. Sie greifen auf die schon im gemeinsamen „Himmler-Projekt“ erprobte Methode zurück, in dem der Schauspieler eine 1943 vor SS-Leuten gehaltene Rede Heinrich Himmlers in voller Länge verlas.

    Vielleicht noch stärker als bei dem Vorgängerfilm wird der Zuschauer der „Hamburger Lektionen“ von der inneren Logik eines radikalen Denksystems bedrängt. Karmakar bietet uns keine Fluchtpunkte: Wir sehen nur Zapatka, der auf einem von drei Hockern sitzend von einzelnen Blättern den Text abliest. Leicht wechselnde Kamerawinkel und Einstellungsgrößen dokumentieren die Arbeit des Darstellers, der stets bemüht ist, nicht in die Rolle Fazazis zu schlüpfen. Wir sehen einen Schauspieler, der versucht, nicht zu spielen. Besonders deutlich wird dies bei den ständig wiederkehrenden Formeln und Floskeln, die einen besonderen Reiz entwickeln und deren Einsatz ein wichtiges rhetorisches Mittel Fazazis ist. Dies ist in Zapatkas Vortrag in einer Weise spürbar, wie es beim bloßen eigenen Lesen des Textes niemals möglich wäre.

    Karmakar enthält uns alle Bilder vor, die sich vor den Inhalt der Worte hätten schieben können, auch und vor allem die Originalaufnahmen Fazazis. Bart und Turban, der Klang der Sprache – darauf hätten wir mit unbewussten Reflexen reagiert. Karmakars Reduzierung geht also durchaus mit einer extremen Stilisierung einher. Ein scheinbar paradoxes Kalkül, das wundersam aufgeht. Die eigenwillige Form, die keiner der üblichen medialen Authentifizierungsstrategien entspricht, und der Verzicht auf umfassende Erklärungen und Einordnungen, machen aus „Hamburger Lektionen“ ein ungewohntes und herausforderndes Filmerlebnis. Die gelieferten Fakten und Eindrücke sind beunruhigend. Die kulturellen und religiösen Konflikte unserer Zeit sind offenbar fast unlösbar. Nach „Hamburger Lektionen“ könnte man versucht sein, das Wort „fast“ aus dem letzten Satz zu streichen. Doch unlösbar sind die Probleme nur dann, wenn wir nicht versuchen, sie besser zu verstehen. Und dazu leistet Karmakars Film einen vielschichtigen, formal wie inhaltlich intelligenten Beitrag.

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