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    Der große Ausverkauf
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der große Ausverkauf
    Von Carsten Baumgardt

    „Wir haben doch schon einen Film über Globalisierung gemacht. Da brauchen wir doch nicht noch einen.“ Das sagte ein Redakteur eines Fernsehsenders Filmemacher Florian Opitz auf den Kopf zu, als dieser Partner für seine Globalisierungs-Dokumentation „Der große Ausverkauf“ suchte. Ähnlich sahen es fast alle Filmförderungsanstalten und TV-Sender. In der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, bei Arte, dem WDR und dem Bayerischen Rundfunk fand der Filmemacher nach zähem Ringen doch noch Finanziers für sein Anliegen. Opitz will den abstrakten Begriff der Globalisierung mit dem Beleuchten von Einzelschicksalen, die unter großangelegten Privatisierungen zu leiden haben, greifbar machen. Und das gelingt „Der große Ausverkauf“; und genau deshalb hat der Film seine Daseinsberechtigung – auch im Kino, zeitlich passend zum G8-Gipfel in Heiligendamm (6. bis 8. Juni 2007).

    Der Film widmet sich dem Globalisierungsteilaspekt der Privatisierung anhand von vier persönlichen Schicksalen, die quer über den Erdball verteilt sind. Insgesamt vier Jahre hat der Regisseur und Autor mit der Produktion verbracht. Das verdeutlicht nachhaltig den eigenen Stellenwert seiner „Mission“.

    Bongani Lubisi, 32, ist ein junger, zweifacher Familienvater, der als Aktivist im „Soweto Electricity Crisis Committee“ (SECC) kämpft. Durch die Privatisierung des Stromnetzes von Johannesburg, Südafrika, können sich nur noch wenige Menschen in dem riesigen Township elektrischen Strom leisten, weil die Preise rapide gestiegen sind. Lubisi und seine Gesinnungsgenossen rufen die „Operation: Kanyisa“ („Operation: Licht an!“) ins Leben und sorgen in Guerilla-Aktionen dafür, dass auch die armen Haushalte (illegal) wieder an das Stromnetz angeschlossen sind. „Operation: Licht an!“ ist die stärkste der vier Episoden. Hier wird der Zuschauer emotional am eindringlichsten gepackt. Obwohl der Film als Dokumentation angelegt ist, erzählt er dennoch mehrere Geschichten, die das große Ganze auf ein kleines, aber authentisches Schicksal herunterbrechen. Opitz geht dabei keinesfalls belehrend vor, bezieht aber eine ganz eindeutige Position, ohne jedoch aus dem Off zu kommentieren.

    Simon Weller, 37, ist Lokführer im englischen Brighton. Durch die Privatisierung der British Rail, der englischen Staatsbahn, im Jahr 1997 hat er zwar nicht seinen Job verloren, aber das Arbeiten für die Folgeunternehmen - 150 unterschiedliche private Firmen konkurrieren untereinander – führt zu purem Frust über drastisch verschlechterte Bedingungen. Aus dem einst effizientesten Bahnunternehmen Europas ist ein logistischer Albtraum geworden, der sich zudem auch verheerend auf die Sicherheit der Passagiere auswirkt. Drei große Zugkatastrophen mit Dutzenden von Toten lassen sich seitdem dem Versagen des neuen Systems zuordnen. Das Schlimmste an der Entwicklung: Derzeit zahlen die britischen Steuerzahler doppelt so viele Subventionen wie zu British-Rail-Zeiten. Weller ist verbittert, gibt den Kampf aber nicht auf. Im Gegenteil, er lässt sich in der Gewerkschaft aufstellen, um für eine Verbesserung des Systems zu kämpfen. „Der Zug nach Nirgendwo“ zeigt ein Paradebeispiel für die wirtschaftliche Fehlleistung einer staatlichen Privatisierung.

    Minda Lorando, 53, lebt in den Slums von Manila, der Hauptstadt der Phillippinen. Ihr 19 Jahre alter Sohn Jinky ist schwer nierenkrank, benötigt zwei Mal die Woche eine teure Dialyse, um nicht zu sterben. In den 90er Jahren hat der Staat das Gesundheitssystem privatisiert. Die Folge: Es wird nur noch der behandelt, der auch bezahlen kann. Wer kein Geld hat, hat Pech und muss dies je nach Krankheitsgrad büßen - zur Not mit dem Leben. Lorando versucht vergeblich, bei Politikern Unterstützung zu finden, jeden Cent, den sie hat, steckt sie in die Gesundheitsversorgung ihres Sohnes. Das Haus ist längst weg, die Zukunftsaussichten sind schlecht. Die Episode „Gesundheit nur für Reiche“ macht dem Betrachter die Brutalität der Konsequenzen klar. „Akzeptieren Sie lieber, dass Ihr Sohn sterben wird“, sagt ihr das Krankenhauspersonal offen ins Gesicht. In den vergangenen zehn Jahren haben rund 100.000 Pfleger und 5.000 Ärzte das Land verlassen, weil die privaten Firmen nicht genug zum Überleben der Beschäftigten zahlen können. 1.000 Krankenhäuser wurden wegen Personalmangel geschlossen. Das System harkt an allen Ecken und Enden.

    Im April 2000 wurde über der bolivianischen Stadt Cochabamba das Kriegsrecht verhängt. Der milliardenschwere US-Konzern Bechtel, wie sich erst später herausstellte, drehte der drittgrößten Stadt Boliviens das Wasser ab und verlangte Preise, die sich kaum einer leisten konnte. Selbst das Sammeln von Regenwasser war plötzlich strafbar. Das trieb die Menschen auf die Straßen. Einer der engagiertesten Aktivisten im Widerstand war Oscar Olivera, 45. Der Mechaniker und Gewerkschaftsvertreter berichtet von den damaligen Zuständen. Sieben Menschen starben bei den Protesten, doch der Aufstand der Straße hatte letztlich Erfolg. „Der Wasserkrieg“ ist die schwächste der vier ineinander verwobenen Episoden. Hier gelingt es Opitz am wenigsten, einen emotionalen Bezug herzustellen, selbst wenn er über die leidgeplagte fünffache Mutter Rosa de Turpo, 60, versucht, das Thema zu erden.

    Zusammengehalten werden die Lebensgeschichten, die unter klaren thematischen Aspekten (Südafrika: Strom, England: Arbeit, Phillippinen: Gesundheit, Bolivien: Wasser) geordnet sind, durch die globalen Einschätzungen von Professor Joseph E. Stiglitz. Der Amerikaner ist ehemaliger Chefökonom der Weltbank und Nobelpreisträger für Wirtschaftwissenschaften. Opitz lässt auch führende Köpfe der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu Wort kommen, führt deren Kommentare als weltfremd vor. Weltbank und IWF fördern – in gutem Glauben – die Privatisierung, verschließen aber die Augen vor den Folgen. Stiglitz: „Ich habe einmal bestimmte Aspekte der Wirtschaftspolitik mit moderner Kriegsführung verglichen. In der modernen Kriegsführung versucht man zu entmenschlichen, das Mitgefühl zu beseitigen. Man wirft Bomben aus 15.000 Metern, aber man sieht nicht, wo sie landen, man sieht keine Schäden. Es ist fast wie in einem Computerspiel. Man spricht von ‚body counts’. Das entmenschlicht den Prozess. Genauso ist es in der Wirtschaft: Man redet über Statistiken und nicht über die Menschen hinter diesen Statistiken.“ Diesem Vorgehen tritt Regisseur Opitz entgegen und zeigt - auch mit scharfem Blick für Bilder neben der Spur - genau „die Menschen hinter diesen Statistiken“. Das ist die Leistung des Films. Und somit ist durchaus ein weiterer Dokumentarfilm zu diesem Thema notwenig, um die Leute aufzurütteln, selbst wenn hier das Rad nicht neu erfunden wird.

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