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    Vivere
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Vivere
    Von Andreas Staben

    Drei Frauen liegen nebeneinander und richten den Blick nach oben. Ihr Gespräch hat den tastenden Tonfall unerwarteter Vertrautheit, große und kleine Geheimnisse deuten sich in den Stimmen und Gesichtern an. Ausgehend von dieser Szene entfaltet Angelina Maccarone in ihrem Drama „Vivere“ (italienisch: leben) die Geschichten der drei Frauen, erzählt von ihren Problemen und Sehnsüchten. Der Komplexität der Beziehungen in einer von allen dreien aus unterschiedlichen Gründen als Krise empfundenen Situation entspricht die Erzählstruktur und die formale Gestaltung. Die Ereignisse einer schicksalhaften Reise werden nacheinander aus der Sicht von jeder der drei Protagonistinnen geschildert. Der Titel wirkt in seiner allumfassenden Emblematik und vagen Fremdheit zunächst etwas hochtrabend und unverbindlich. Auch die dramaturgische Anlage birgt die Gefahr schematischer Überkonstruktion. Doch Angelina Maccarone (Fremde Haut, Verfolgt) zeigt fernab von erzählerischen Taschenspielertricks und esoterischer Spekulation erneut ihr großes Potential. Unterstützt von einem herausragenden Trio von Darstellerinnen wird sie mit durchdachter Bildsprache ihrem Titel gerecht. „Vivere“ ist voller Gefühle, voller Leben.

    Pulheim bei Köln, Heiligabend. Mitten in den Festtagsvorbereitungen schickt ihr Vater Enrico (Aykut Karacik) die Taxifahrerin Francesca (Esther Zimmering) auf die Suche nach ihrer deutlich jüngeren Schwester Antonietta (Kim Schnitzer). Der Teenager ist getürmt und mit der Band ihres Freundes Snickers (Egbert-Jan Weeber) unterwegs zu einem Auftritt nach Rotterdam. Am Rande der Strecke gabelt Francesca in ihrem Taxi die etwa 60-jährige Gerlinde (Hannelore Elsner) auf, die offenbar einen Unfall hatte. Gerlinde hat gerade ihren Job verloren und ihre langjährige Geliebte hat sie verlassen. Die Wege kreuzen und trennen sich an der Autobahn, im Krankenhaus, in einem trostlosen Hotel und in einem Club in Rotterdam. Alle drei müssen Entscheidungen treffen und leben ihr Leben.

    Leben? Fünf Jahre hat es gedauert, bis Angelina Maccarone und Produzentin Anita Elsani (Solino, „Anam“) die Finanzierung von „Vivere“ sichern konnten. Beharrlichkeit und Geduld haben sich gelohnt. Sie sind in den intensiven Bildern und Darstellerleistungen des Films wiederzufinden. Es ist kein Zufall, dass Maccarone „Vivere“ in der emotionsgeladenen Weihnachtszeit ansiedelt, wenn alles perfekt sein soll und sich häufig nur die Leere manifestiert, die im Alltag verborgen bleibt. Auch die drei Protagonistinnen sehen sich an diesem Moment der drängenden Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens ausgesetzt: Für Francesca wird die Suche nach ihrer Schwester zur Reise zu sich selbst. Bisher führte sie eine Existenz auf Autopilot, die ganz von der Sorge um die Familie bestimmt war. Die eigenen Sehnsüchte blieben dabei auf der Strecke. Esther Zimmering (Im Schwitzkasten, Schwesterherz) enthüllt die Verletzlichkeit und die Last der Verantwortung hinter einer scheuen und abweisenden Fassade. Hannelore Elsners (Alles auf Zucker, Rauchzeichen, „Die Unberührbare“) Gerlinde dagegen ist der Kampf mit der Verzweiflung im Gesicht abzulesen. Nervös klammert sie sich an das Telefon, eine Flasche oder ihre Zigaretten. Abgrundtiefe Einsamkeit treibt sie bis an den Rand der Selbstaufgabe. Vervollständigt wird das Trio dreier Generationen von der sehr natürlich wirkenden Kim Schnitzer (Lucy). Verliebtsein, Abenteuerlust und Trotz lassen Antonietta die Dinge in Gang setzen. Sie nimmt ihr Leben in die Hand und lernt dabei, Verantwortung zu übernehmen.

    Leben. Der emotionale Ausnahmezustand der Figuren wird durch das Motiv der Reise akzentuiert.

    Das Road Movie spiegelt die innere Bewegung in einer äußeren. Die betäubende Monotonie der Vorstadtsiedlung, der Autobahn und der Rockmusik, die den langen Taxifahrten einen Rhythmus vorgibt, dient Francesca als Schutzpanzer. Gerlinde dagegen ist Zuschauerin, ausgeschlossen vom Leben der anderen. Ihr bleibt nur der Blick durchs Fenster auf das vermeintliche Familienidyll ihrer Geliebten, die es nicht fertig bringt, ihren Mann und ihre Kinder an Weihnachten zu verlassen. Gerlindes Fluchtweg an den Ort glücklicher gemeinsamer Zeiten in einem Rotterdamer Hotelzimmer führt zu ihrer Desillusionierung. In einer brillanten Sequenz wird der Raum und seine Wahrnehmung zur unerträglichen Last, Gerlindes Überlebenswille scheint gebrochen. Aber die Reise ins Zwischenreich von Leben und Tod ist dann eine von den hoffnungsvollen Klängen des „Weihnachtsoratoriums“ beglaubigte symbolische Wiedergeburt. Gerlinde kann fortan von neuem auf andere zugehen, woraus eine wahre Verfolgungsjagd wird, als sie am Bahnhof Antonietta erkennt. Sie fängt sie regelrecht ein und nimmt damit wieder am Leben teil. Jede der drei Teilgeschichten hat ihren eigenen fein nuancierten Stil, die atmosphärisch dichte Kameraarbeit von Judith Kaufmann (Vier Minuten, „Elefantenherz“) transportiert mit ihren Bildern die Seelenzustände der Protagonistinnen.

    Leben! Als Antonietta Gerlinde im Hotelzimmer aufspürt und die beiden Frauen sich näherkommen, ist das für die Jüngere ein Moment der Hoffnung, der Öffnung. Wenn wir diese Szene später aus der Sicht Gerlindes erneut und anders sehen, haftet ihr etwas Überrumpelndes und Unbehagliches an. Die Perspektivenwechsel in „Vivere“ haben nichts mit kriminalistischen Puzzlespielen zu tun. Vielmehr geht es um die Wahrheit in ihrer nicht komplett fassbaren Vieldeutigkeit. Jeder einzelne Mensch lebt sein eigenes Leben, die anderen können es nie ganz verstehen. Dieser zunächst durchaus ernüchternde Befund beflügt Angelina Maccarones Film, denn er mildert die Last fremder Erwartungen. „Vivere“ ist eine gefühlvolle Hymne auf den Aufbruch, auf den Mut zur Selbstbestimmung.

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