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    Blutrache
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Blutrache
    Von Jens Hamp

    Jenseits der britischen Insel hat Shane Meadows spätestens mit „This Is England“ auf sich aufmerksam gemacht. Die mit autobiographischen Anklängen versehene Geschichte eines Zwölfjährigen, der in Skinheadkreisen neue Freunde findet, wurde mit Preisen (u.a. BAFTA-Award als bester Film des Jahres) überhäuft. Doch auch vorher stellte der Brite sein Gespür für interessante Filmkonzepte unter Beweis. Mit „Once Upon A Time In The Midlands“, für den er Robert Carlyle und Bob Hoskins vor die Kamera lockte, ehrte er den Spaghetti-Western. Nun bereichert er das Genre des Rachefilms um einen nüchternen Beitrag: „Blutrache“ ist trotz marginaler Mängel eine interessante und sehenswerte Abhandlung über Täter und Opfer.

    Nach Jahren in der britischen Armee kommt Richard (Paddy Considine) in sein verschlafenes Heimatnest zurück. Doch sein Besuch ist nicht positiver Natur. Er will Rache. Rache an einer Gruppe gelangweilter Vorstadtdealer, die sich im Drogenrausch an Richards geistig zurückgebliebenem Bruder Anthony (Tony Kebbell) vergriffen und ihn bis aufs Blut erniedrigt haben. Zunächst spielt der Ex-Soldat mit seinen Opfern, erschreckt sie, beschmiert ihre Wohnungen – doch der erste Tote lässt nicht lange auf sich warten…

    „God will forgive them. He’ll forgive them and allow them into heaven. I can’t live with that.“ - Richard

    Wer ist Täter? Wer ist Opfer? Wer hat das Recht, über die Täter zu richten? Wann wird der Richtende zum Täter? Shane Meadows möchte in die großen Fußstapfen von Taxi Driver treten und versucht, die stumpfen Gefilde des Rachethrillers zu meiden. Ausgangspunkt für seine Herangehensweise an die Selbstjustizthematik ist eine verschachtelte Erzählweise, die den Zuschauer in der Beurteilung des Verhaltens Richards in einem Schwebezustand lässt. Häppchenweise wird die Hintergrundgeschichte um Richards Bruder erzählt. Während der Ex-Soldat seine Opfer mit einer Gasmaske bekleidet erschreckt, wird in ersten Rückblenden aufgedeckt, dass sich die Täter verbale „Späße“ mit dem zurückgebliebenen Anthony erlaubten. Die Intensität von Richards Handlungen steigert sich und auch die Erniedrigung Anthonys in den in schwarz und weiß gehaltenen Rückblenden wird immer extremer.

    Neben der wundersam ruhigen musikalischen Untermalung kristallisiert sich bereits in den ersten Minuten heraus, dass „Blutrache“ von den Brüder-Darstellern hervorragend getragen wird. Tony Kebbell (Alexander, Control) verkörpert Anthony ausdrucksstark, ohne dabei in platte Behindertenklischees zu verfallen. Paddy Considine (In America, Das Bourne Ultimatum), der auch am Drehbuch mitschrieb, brilliert hingegen als kompromissloser Rächer, dessen Entschlossenheit ihn zu einem Monster werden lässt. Mit stoischem Blick tritt er seinen Widersachern gegenüber. Er lässt die Maske des überlegenen Einzelkämpfers nie fallen und schlägt ebenso erbittert wie emotionslos zurück.

    Leider erweist sich bereits zu einem frühen Zeitpunkt, dass Meadows seinen hohen Ansprüchen nicht dauerhaft gerecht wird. Die Charakterisierung der Drogendealer ist im Kontext der düster-realistischen Erzählung viel zu überzogen. Wenn sie mit geschminktem Gesicht die Haustür öffnen oder mit einer klapprigen Ente durch den Ort fahren, erinnert dies beinahe an die überzogenen Gangster aus den Guy-Ritchie-Filmen. Wirklich ernst nehmen kann man diese Figuren nur mit einem zugedrückten Auge. Daneben droht „Blutrache“ im Mittelteil gar inhaltlich die Puste auszugehen. Äußerst plakativ werden die Rückblenden jeweils vor den Rachetaten Richards eingesetzt. Das Offenlegen der Puzzlestücke entkräftet in diesen Momenten das kaltblütige – und sehr realistisch inszenierte – Vorgehen Richards. Dem Zuschauer scheint die Rechtfertigung für die Morde auf einem Silbertablett gleich mitserviert zu werden.

    Achtung Spoiler! Für diese kurzzeitigen Mangelerscheinungen entschädigt jedoch das starke Finale. Bereits zu Beginn des Films zeichnet sich ab, dass Anthony aufgrund der Quälereien der Drogendealer sein Leben lassen musste – anderweitig wäre das blutige Vorgehen seines Bruders doch etwas zu drastisch. So wird zunächst in einer letzten Rückblende die endgültige Erniedrigung offenbart. Optisch und musikalisch („De Profundis“ von Arvo Pärt) wird diese als Kreuzgang Jesus‘ dargestellt. Rückblickend wird Richard somit in eine gotthafte Position gerückt, aus der er sich für die Quälereien an seinem Schützling rächt. Meadows begeht nach dieser möglichen Rechtfertigung allerdings nicht den kapitalen Fehler, den Film mit einem finalen Mord ausklingen zu lassen. Er geht vielmehr noch einen entscheidenden Schritt weiter und wirft erneut die Frage nach den monströsen Tätern auf – und beantwortet diese mit einer grandiosen Konsequenz. Ende Spoiler

    Doch nicht nur mit seinem – rückblickend – äußerst durchdachten und interessanten Drehbuch überzeugt Meadows. Mit „Blutrache“ stellt er auch seine Qualitäten als Regisseur unter Beweis. Optisch verleiht die grobkörnige Handkamera dem Film einen sehr passenden realistischen Anstrich. Insbesondere die Gewaltexzesse entfalten dank dieser Darstellung eine ernüchternde Kraft, die einem Schlag in die Magengrube gleicht. Ein weiterer Beleg für diese visuelle Stärke sind die kunstvollen Schnitte zwischen den Zeitebenen, die dafür sorgen, dass einige Bewegungen „zwischen“ den Zeitebenen stattfinden. Ein simpler Effekt, der zu einer stilsicheren Verknüpfung der Handlungsebenen führt.

    Wer ist die Bestie? Wer ist das Monster?

    Obgleich „Blutrache“ von Paddy Considine und Tony Kebbell getragen wird und durch die verzwickte Erzählweise eine interessante und diskussionswürdige Abhandlung über die Frage nach Opfern und Tätern darstellt, droht der Film im Mittelteil umzukippen. Die Charakterzeichnung der Gegenspieler erweist sich als zu oberflächlich. Die Handlung driftet augenscheinlich in klassische Gewässer ab. Für diese zwischenzeitlichen Mängel entschädigt allerdings das großartige und tiefgehende Finale, das den Zuschauer sprachlos zurücklässt. Zwar erreicht Meadows insgesamt nicht die bittere Qualität eines Taxi Driver, die Abschlusspointe hebt „Blutrache“ aber mühelos von gewöhnlichen Rachethrillern ab.

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