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    Man on Wire - Der Drahtseilakt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Man on Wire - Der Drahtseilakt
    Von Christian Horn

    Der Dokumentarfilm ist sozusagen von Haus aus dazu verpflichtet, die Realität möglichst genau und mit so wenigen Verzerrungen wie irgend möglich abzubilden. Und darin liegt das Paradox des Genres: Realität völlig unverzerrt abbilden kann nicht funktionieren. Sobald einer etwas filmt, konstruiert er ganz automatisch, da führt kein Weg dran vorbei. Dennoch geht man davon aus, ein anständiger und aufrichtiger Dokumentarfilm müsse zumindest versuchen, sich diesem Ideal der unmittelbaren Realitätsabbildung anzunähern. Das heißt: keine nachgestellten Szenen, keine beim Spielfilm entliehene Dramaturgie und ein eher zurückgenommener Off-Kommentar, damit die direkte Anschauung und Meinungsbildung des Betrachters nicht beeinflusst wird. Das alles selbstredend so wertneutral wie irgend möglich. Also Dokus machen wie Völker Koepp (Söhne); ohne Musik, ohne jede Spielerei und einfach weiter draufhalten, wenn die Interviewten mal eine Minute ins Stocken geraten. Maßgeblich in Frage gestellt wurde diese gängige These schon von Waltz With Basir, einem komplett computeranimierten (!) Dokumentarfilm. Und nun kommt mit „Man On Wire“ ein Film, der alles an sich hat, was doch eigentlich so un-, wenn nicht gar antidokumentarisch ist: nachgestellte Sequenzen, dramatisierende oder sonstwie manipulative Musik und eine vom fiktionalen Kino übernommene Struktur und Dramaturgie. Zu allem Überfluss wird auch noch Stanley Kubricks Uhrwerk Orange zitiert. Das alles verwebt Regisseur James Marsh mit Interviews und Originalaufnahmen zu einem spannenden Dokumentarfilm-Krimi, der trotz aller Regelbrüche keineswegs undokumentarisch ist.

    Die verspielte Form ist dem Inhalt dabei durchaus angemessen. Erzählt wird die Geschichte eines unglaublichen Coups: Der französische Akrobat Philippe Petit spannt in der Nacht zum 7. August 1974 in einer heimlichen Aktion ein 60 Meter langes Drahtseil zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers. Am nächsten Tag balanciert er auf demselben eine Dreiviertelstunde in mehr als 400 Metern Höhe. Natürlich kommt die Polizei recht bald dazu. Doch da diese nicht auf das Seil kann, balanciert Petit in aller Ruhe zu Ende. Marshs Film erzählt hauptsächlich von der Planung des Coups, der als das künstlerische Verbrechen des 20. Jahrhunderts gilt. Petits Helfer und seine damalige Lebensgefährtin kommen in Interviews zu Wort, Super-8-Aufnahmen und Fotografien zeigen Philippe Petit und seine Kameraden bei der genauen Planung der wagemutig-verrückten Aktion. Herzstück des Films ist die Nachtstellung des Coups in Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die in deutlicher Anlehnung an klassische Heist-Krimis inszeniert sind. Hier versprüht der Film einen unwiderstehlichen Charme und eine gute Portion Komik.

    Darüber hinaus zeichnet „Man On Wire“ das schöne und stimmige Porträt eines charismatischen Künstlers. Petit ist nicht nur Seil-, sondern auch Traumtänzer. Ein faszinierender Mann, den der Film keineswegs mystifiziert (nun, ein bisschen vielleicht), sondern überwiegend nüchtern darstellt. Letztlich ist „Man On Wire“ ein Film über Träume und deren Verwirklichung über große Hindernisse hinweg. Beharrlichkeit und die nötige Portion Mut sind in diesem Zusammenhang natürlich unabdingbar. Dem Zuschauer bleibt oft nur ein staunender Blick. Es ist schlicht unglaublich, wie Petit auf dem Seil zwischen den Zwillingstürmen des Word Trade Centers balanciert. Und wie er es geschafft hat, mit seinen Kameraden das Seil dort zu befestigen, ist ebenso unfassbar wie spannend.

    Eine zusätzliche Dimension erhält „Man On Wire“ durch seinen Schauplatz. Der 11. September 2001 ist tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. So wird der Zuschauer sich immer wieder darüber bewusst, dass der Ort von Petits kühnem Verbrechen knapp 30 Jahre später der Ort eines ganz anderen Verbrechens sein wird. Dass die Türme, die Petits Traum so manifest und greifbar machen, heute nicht mehr stehen. Allein dadurch wird „Man On Wire“ auch ein Porträt der beiden Türme – und das, obwohl James Marsh diesen Zusammenhang an keiner Stelle thematisiert, weder Ground Zero noch die ikonischen TV-Bilder von den Flugzeugen, die in die Türme krachen, zeigt. Im Gegenteil: Immer wieder sind Aufnahmen vom Bau des WTC zu sehen. Und daran tut er gut. Ohne diese klaren Hinweise ist das World-Trade-Center-Porträt viel effektiver. Ohnehin weiß jeder von der weiteren Geschichte des Gebäudes.

    Somit ist „Man On Wire“ gleich drei Dinge auf einmal: ein humorvoller und spannender Doku-Krimi, das Porträt eines außergewöhnlichen Mannes und eine unterschwellige Hommage an die beiden ehemals höchsten Türme der Welt. James Marsh hat einen Dokumentarfilm gedreht, der mit vielen Regeln des Genres bricht und die „Wahrheit“ nicht im Rahmen eines akribischen dokumentarischen Gestus, sondern auf ganz eigenwillige Weise abbildet.

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