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    Ricky
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Ricky
    Von Daniela Leistikow

    „Ricky, ist das eine Comic-Figur?“, fragt Vater Paco seine Stieftochter Lisa, die sich diesen Namen für ihren kleinen Bruder wünscht, während beide im Krankenhaus darauf warten, dass das Baby geboren wird. Der Zuschauer fragt sich schon nach der ersten Szene von François Ozons Tragikomödie mit Fantasy-Touch ebenfalls: Wer ist Ricky? Und warum gesteht seine Mutter Katie einer Sozialarbeiterin unter Tränen, dass sie sich nicht im Stande fühlt, ihren Sohn selbst aufzuziehen? Ricky soll in eine Pflegefamilie, da er „schwierig“ sei, sein Vater Katie verlassen hat und die finanzielle Situation der alleinerziehenden Mutter ziemlich ausweglos ist. Das klingt nach Sozialdrama, doch Ozon überrascht nach etwa der Hälfte des Films mit einer Wendung, die „Ricky“ in eine völlig andere Richtung manövriert. Unerwartet und unkonventionell überzeugt der im Wettbewerb der 59. Berlinale erstaufgeführte Film trotz einer etwas anstrengenden, aber für eigene Interpretationen angenehm offenen Erzählweise.

    Katie (Alexandra Lamy, „Cool Waves – Brice de Nice“) lebt mit ihrer 7-jährigen Tochter Lisa (Mélusine Mayance) in einem heruntergekommenen Plattenbau. Oft muss sie sich regelrecht zwingen, zur Arbeit zu gehen. Doch als Katie in der Fabrik, wo sie ihren Lebensunteralt verdient, Paco (Sergi Lopez, Pans Labyrinth, Malen oder Lieben) kennenlernt, kommt noch einmal Schwung in das triste Leben der Single-Mutter. Auf die erste gemeinsame Zigarette folgt ein stürmischer Quickie auf der Firmen-Toilette. Bald darauf zieht Paco bei Katie ein und Ricky (Arthur Peyret) wird geboren. Die kleine Lisa begegnet ihrem Bruder abwechselnd mit Zuneigung und Eifersucht. Paco klagt, das Baby bekäme Katies ganze Aufmerksamkeit, und entfernt sich mehr und mehr von ihr. Eines Tages entdeckt die Mutter seltsame Prellungen an Rickys Schulter...

    Die erzählerische Verwirrtaktik von „Ricky“ mit vielen Leerstellen und Zeitsprüngen in der Handlung ist gleichzeitig Fluch und Segen. Diese Offenheit verlangt die aktive Teilnahme des Betrachters, der eigene Schlüsse aus dem Gezeigten ziehen muss, was vor allem für eingefleischte Kinogänger reizvoll sein dürfte. Regisseur Ozon (8 Frauen, Swimming Pool, 5x2) sagt, er wolle dem Publikum so die Freiheit geben, individuell auf die Story zu reagieren und aus persönlicher Erfahrung ganz eigene Interpretationen zu finden. Doch da nur nach der ersten Szene visuell kenntlich gemacht wird, wohin sich die Geschichte zeitlich wendet, nämlich „einige Monate vorher“, dürften einige Zuschauer das folgende Prozedere als anstrengend empfinden: Ohne Schwarzblenden, Jahresangaben oder sonstige Hinweise werden Ereignisse, die Monate auseinander liegen, so montiert und arrangiert als seien sie zeitlich nur Minuten oder Stunden voneinander entfernt.

    Mit der bereits angedeuteten überraschenden Wendung, die um des Seh-Vergnügens willen nicht verraten wird, zahlt sich die komplexe Anlage des Films aus. Nach dem starken Auftakt ist man zunächst komplett damit beschäftigt, sich einen Reim darauf zu machen, warum Ricky in eine Pflegefamilie soll und wo er seine seltsamen Hämatome her hat. Der Plot-Twist kommt dann vollkommen aus dem Nichts. Ozon bringt das Kunststück fertig, dem Film trotz dieser Bruchstelle auch ausreichend Kontinuität zu geben. Vor und nach dem Wendepunkt der Erzählung fasziniert die Entwicklung einer Familie, die aus einer außergewöhnlichen aber schwierigen Erfahrung gestärkt hervorgeht, wo manch weniger gebeutelte Sippe sich entzweit hätte.

    In der sozialdramatischen Phase des Films scheinen die Rollen zwischen Mutter und Tochter vertauscht. Die zierliche 7-Jährige, der Mélusine Mayance eine für ihr Alter ungewöhnliche Seriösität verleiht, weckt ihre Mutter auf und macht ihr das Frühstück. Die Kleine wirkt ernst, ihre Mama zuweilen naiv. Ricky bringt Katie und Lisa näher zusammen, da beide darin aufgehen, sich um das besondere Baby zu kümmern. Rickys Säuglings-Dreikampf aus an der Flasche nuckeln, nach mehr Milch schreien und Windeln füllen zeichnet das Bild eines zwar süßen, aber zu keinem Zeitpunkt idealisierten Babys – eine ziemliche Seltenheit. Alexandra Lamys inspirierte Darstellung der Katie, die sich zwischen Berufsstress und Alltag aufreibt und durch Ricky plötzlich strahlend aufblüht, fesselt von der ersten bis zur letzten Minute, Sergi Lopez überzeugt als zunächst überforderter Vater und Mélusine Mayance liefert in ihrem Debüt eine beeindruckende Leistung ab.

    Fazit: Mit „ Ricky“ legt François Ozon einen weiteren eigenwilligen und ungewöhnlichen Film vor. Das Überraschungsmoment in der Mitte des Films und die Erzählweise, die zur eigenen Interpretation der Story anregt, fordern den Zuschauer zum Mitdenken auf. Viele Fragen, mit deren Beantwortung normalerweise im Kino zu rechnen ist, bleiben offen. Wessen Neugier das weckt, der sollte sich diesen unkonventionellen, mit guten Darstellerleistungen aufwartenden Film auf keinen Fall entgehen lassen.

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