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    La Belle Visite
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    La Belle Visite
    Von Björn Helbig

    Es gab schon die unterschiedlichsten Versuche einer filmischen Auseinandersetzung mit dem Älterwerden, aber kaum jemand hat einen derart konsequenten und wirkungsvollen Ansatz gewählt wie Regisseur Jean-François Caissy bei seinem beeindruckenden Dokumentarfilm „La Belle Visite“. Er zeigt uns das Leben und den Alltag in einem Altersheim in Kanada mit einer raren Kombination aus inszenatorischer Zurückhaltung und intensiver Wirkung.

    Sie spielen Bingo, sie warten täglich brav im Vorraum, bis sie in den Speisesaal gerufen werden, sie lassen sich frisieren oder sie gehen spazieren. Im Winter schippen die noch fitten Bewohner Schnee, im Sommer machen es sich einige von ihnen auf Stühlen und Bänken vor dem umgebauten Hotel gemütlich und beobachten die Straße und die vorbeifahrenden Autos. Sie haben viele Arzttermine, denn der alte Körper will nicht mehr so richtig. Manchmal werden sie von ihren Verwandten besucht, manchmal sogar nach Hause geholt. Das ist das Leben der Menschen in einer pittoresk am See gelegenen Altenresidenz im kanadischen Québec.

    „La Belle Visite“ ist in erster Linie ein Film über Menschen. Caissy hat ein hervorragendes Auge für ihre Beobachtung und er zeigt sie uns ohne gestalterische Schnörkel oder manipulative Eingriffe. Die Bewohner des Altersheims haben in diesem Film aber dennoch alle – unabhängig von ihrer körperlichen oder geistigen Verfassung – viel Ausstrahlung. In ihrer gebeugten Haltung offenbart sich nicht nur die Last der Jahre und in ihren faltigen Gesichtern lässt sich mehr als nur das Lebensalter ablesen – in die ganze Erscheinung dieser Menschen haben sich unzählige Geschichten und Schicksale eingeschrieben. Dabei geht der Filmemacher äußerst diskret und respektvoll vor: Es werden weder Namen genannt noch Hintergrundinformationen preisgegeben. Manchmal fährt ein Krankenwagen vor, und wenn die Pfleger wieder aus dem Haus kommen, tragen sie eine Bahre mit einem zugedeckten Leichnam. Der Zuschauer erfährt nicht, wer gestorben ist.

    Jean-François Caissy, der über einen Zeitraum von 15 Monaten in dem Altenheim gefilmt hat, verzichtet darauf, die Aufnahmen in eine chronologisch nachvollziehbare Reihenfolge zu bringen, so dass der Betrachter bald jedes Zeitgefühl verliert. Und auch wenn das Leben der Heimbewohner mit seinen diversen Aktivitäten nicht im eigentlichen Sinne monoton wirkt, entsteht durch wiederkehrende Abläufe und Routinen, die in manchmal quälend langen Einstellungen festgehalten werden, doch ein ganz eigentümlicher Eindruck: Aus Zeitlosigkeit wird Ziellosigkeit. Caissy enthält sich dabei jeder Wertung und lässt die Frage nach dem Sinn eines Lebens ohne Ziel unbeantwortet.

    Der selber aus Québec stammende Regisseur begnügt sich damit, das Leben im Heim einfach und schnörkellos aufzuzeichnen. Sein Film hat zwar einen Ort und einen Gegenstand – aber eine individuelle Perspektive oder ein weitergehendes Konzept, das über den Versuch einer gleichsam reinen Dokumentation hinausginge, ist nicht zu erkennen. Lediglich wenn Caissy den Horizont filmt, scheint es, als wolle er doch noch auf etwas außerhalb des Heimalltags verweisen und den Raum für das Nicht-Sichtbare und das Nicht-Wissbare öffnen. Diese Bilder des Himmels sind die einzigen Einstellungen im Film, die einen Hauch von symbolischer Überhöhung in sich tragen. Aber sie wären gar nicht nötig gewesen, denn Caissys auf den ersten Blick so sachlich wirkende Beobachtungen bringen auf wundersame Art immer wieder große Hoffnung und unendliche Traurigkeit zugleich zum Ausdruck.

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