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    Der Soldat James Ryan
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Der Soldat James Ryan
    Von Ulrich Behrens

    Machen wir uns nichts vor: Krieg ist Krieg und Film ist Film. Wenn etwas wahrhaftig ist, dann die Tatsache, dass existentielle Situationen wie Krieg, permanente Armut oder Leben unter Elendsbedingungen, existentielle Erfahrungen solcher Art nicht „realistisch“ visualisiert werden können – noch weniger als schon Alltagserfahrungen, die jeder hat. Insofern wohnt jedem Film über den Krieg oder den Holocaust oder über Elend auch ein Akt des Scheiterns inne. Erfahrungen, die wir nicht selbst vorweisen können, verbleiben einem Bereich zu Unzugänglichen. Zuletzt ist Ridley Scott mit seinem Kriegsdrama „Black Hawk Down“ (2001) an dem selbst verkündeten Ziel gescheitert, den Krieg so realistisch wie möglich per Zelluloid in die Gefühle und Gedanken zu hämmern. Auf der Leinwand wird nicht gekämpft und nicht gestorben. Scott zeigte zwei Stunden lang in technischer Perfektion ein fiktives Kriegsgeschehen. Aber das reale Kriegsgeschehen bleibt uns verborgen, auch wenn es vier Stunden von der Leinwand Bilder hageln und Bomben tönen würde.

    Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“ (mit dem verfälschenden deutschen Titel „Der Soldat James Ryan“, der dem zentralen Moment des Films den Boden unter den Füßen wegreißt) ist – trotz aller Widerworte – kein Film, der Realistik verspricht. Sein Thema ist ein anderes. Der 6. Juni 1944, als die Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie begann, der D-Day, an dem die zweite Front gegen das nationalsozialistische Deutschland und die unbändigen Verheerungen seiner Kriegsmaschinerie eröffnet wurde, war auch ein Tag der Bilanzierung: Wie viele sowjetische Soldaten, die den Vormarsch der Hitler-Truppen verzweifelt und mutig bekämpft hatten, und wie viele KZ-Insassen hatten bis zu diesem Tag bereits ihr Leben lassen müssen? Die lange Eingangssequenz von der Landung der ersten amerikanischen Soldaten an den Ufern Frankreichs gehört zu den am meisten beeindruckenden Kriegsszenarien der Filmgeschichte. Es ist nicht so sehr die technische Brillanz, sondern die Konstruktion dieser Szene aus der Sicht der einzelnen Soldaten, die sie beispielsweise von Scotts „Black Hawk Down“ bereits in ihrer Absicht unterscheidet. Die überwiegend mit der Handkamera gedrehten Bilder vermitteln uns näherungsweise ein Bild vom Eindruck, den die Soldaten empfunden haben könnten, müssten: Chaos. In diesen Momenten, so Spielberg, ist alles vergessen, was in Propagandafilmen, heroischen Reden, patriotischen Klängen der Armee mit auf den Weg gegeben wurde. Es herrscht nichts weiter als Tod und für jeden einzelnen russisches Roulette in unkontrollierbarem, apokalyptischem Ausmaß, dem man mit Worten nicht Herr werden kann.

    Das Ziel der Landung – die Eröffnung der zweiten Front – korrespondiert direkt und auf erschreckende Weise mit dem Ziel des einzelnen Soldaten, diese Hölle zu überleben. Die Kamera, die in einer Szene mit dem Blut eines sterbenden Soldaten bespritzt wird, taumelt wie in der Hand eines Dokumentarfilmers durch die Reihen der fallenden Soldaten, die ihre Köpfe verlieren, bluten, das Meer röten, die in der Luft zerplatzen, und der weiter vorstoßenden Truppe. Es ist diese unkontrollierbare Situation, aus der es kein Entrinnen gibt, der man auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, die jeden Patriotismus ad absurdum führt, weil es um nichts anderes mehr geht als: durch und überleben.

    Ridley Scott hatte das gleiche Anliegen. Doch im Gegensatz zu Spielberg erzählt Scott keine Geschichte mit überzeugenden Figuren, keine Geschichte, die Hand und Fuß hat, sondern setzt voll und ganz auf die Macht der Bilder, hinter der sich die Ohnmacht der intendierten Aussage „Krieg, wie er wirklich ist“ nur schwer verbergen kann. Spielberg erzählt eine Geschichte, und kontrastiert diese Geschichte mit dem – im wahrsten Sinn – heillosen Chaos der Situation der Soldaten. Das macht wiederum Sinn, weil es das Kriegsgeschehen selbst nicht für sich in den Mittelpunkt stellt. Anfang und Ende des Films ziert die amerikanische Fahne. Die Fahne am Ende des Films ist ergraut, blass geworden. Warum? Ein alter Mann (Harrison Young) steht auf einem Soldatenfriedhof in der Normandie, Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg, bestürzt, weinend, kraftlos. Er steht vor einem der zahllosen Gräber, die alle eins wie das andere aussehen, kniet nieder, erinnert sich, verbeugt sich vor dem Toten, der dort liegt.

    6. Juni 1944. Im Hauptquartier der amerikanischen Armee erfährt General George Marshall (Harvey Presnell) kurz nach Beginn der Landung in „Omaha Beach“, wie das Operationsgebiet in der Normandie genannt wurde, dass eine Frau Ryan aus Iowa drei ihrer vier Söhne im Krieg bereits verloren hat. Frau Ryan erhält alle drei Todesbotschaften am selben Tag. Marshall erinnert sich an einen Brief, den der amerikanische Präsident Abraham Lincoln in einer vergleichbaren Situation während des Bürgerkriegs einer Frau Bixby in Boston sandte, die ebenfalls mehrere Söhne verloren hatte. Marshall erteilt den Befehl, eine Gruppe von Soldaten sollten den vierten Sohn von Frau Ryan, Private James Ryan (Matt Damon), in der Normandie ausfindig machen und nach Hause schicken.

    Acht Männer erhalten den Befehl. Unter dem Kommando des Englischlehrers Captain John Miller (Tom Hanks) ziehen Private Reiben (Edward Burns), Sergeant Horvath (Tim Sizemore), der mit Miller befreundet ist, Private Caparzo (Vin Diesel), Private Wade (Giovanni Ribisi), Private Jackson (Barry Pepper), Private Mellish (Adam Goldberg) und der französisch und deutsch sprechende Corporal Upham (Jeremy Davies) los, um Ryan ausfindig zu machen. Keiner der acht begreift so recht, warum sie sich in zusätzliche Lebensgefahr bringen sollen, um einen Mann zu retten und nach Hause zu schicken. Während der Suche nach Ryan kommt es Auseinandersetzungen. Als Miller einen deutschen Soldaten, der bei der Eroberung einer Anhöhe festgenommen wurde, laufen lässt, reagiert Reiben mit Sarkasmus und Zynismus und will die Gruppe verlassen. Schließlich findet die Gruppe Ryan. Caparzo und Wade sind gefallen. Ryan allerdings, der mit einigen wenigen Soldaten eine Brücke vor den Deutschen sichern soll, reagiert anders als erwartet. Er will nicht nach Hause geschickt werden, sondern seine Kameraden bei der Verteidigung der Brücke unterstützen. Miller reiht sich mit seinen Leuten in die Gruppe ein und entwickelt einen Plan, anrückende Panzer aufzuhalten und nur im Notfall die Brücke zu sprengen ...

    Spielberg benutzt die Kameraführung in der Eingangssequenz des Films, um einen annähernd dokumentarischen Charakter von der Landung am D-Day zu erzeugen. Janusz Kaminski, der auch „Schindlers Liste“ fotografierte, wirkt wie ein Augenzeuge im wirklichen Kriegsgeschehen. Selbst wenn allerdings jemand ein wirkliches Kriegsgeschehen unmittelbar gefilmt hätte, handelt es sich bei solchen Aufnahmen immer nur um eine Annäherung. Das dürfte auch Spielberg bewusst gewesen sein. Und – im Unterschied zu Ridley Scotts „Black Hawk Down“ kontrastiert er diese Annäherung mit einer Geschichte, die zwiegespalten ist. Auf der einen Seite zeigt er einen General, der aus durchaus ehrenwerten und glaubhaften Motiven einer Mutter den Verlust ihres letzten Sohnes ersparen will, und stellt demgegenüber die Gruppe von Soldaten, die diesen Sohn suchen soll und aus ihren furchtbaren Erfahrungen heraus, die sie bei der Landung gemacht haben, nicht begreifen können, welchen Sinn dieser Befehl haben soll. Sie riskieren ihr Leben in extremer Weise und sollen sich nun noch zusätzlich gefährden, indem sie einen anderen, den sie nicht einmal kennen, finden und nach Hause schicken sollen. Warum soll der überleben, wo einer nach dem anderen von ihnen gefallen ist?

    Es ist dieser kontrastgeladene Unterschied zwischen den Erfahrungshorizonten – hier der General in der sicheren Position, dort die acht Soldaten im Kampf – der „Saving Private Ryan“ zu einem der besten Kriegsfilme der Filmgeschichte werden lässt. Das bezieht sich auch und vor allem auf die Schilderung der Charaktere selbst. Tom Hanks spielt einen Englischlehrer, der als Captain dafür Sorge zu tragen hat, dass der Auftrag ausgeführt wird. Hanks Miller schwankt zwischen Pflichterfüllung, Resignation und psychischer und physischer Erschöpfung; nicht nur einmal zittern ihm die Hände wie Espenlaub. Er meint zu seinem Freund Horvath: „Mit jedem Mann, den ich töte, fühle ich mich weiter von zu Hause entfernt.“ 94 Soldaten unter seinem Befehl sind gefallen. Miller erinnert sich an seine Frau, wie sie Rosen beschneidet, und zweifelt daran, dass sie ihn bei seiner Rückkehr wiedererkennt. Edward Burns Reiben treibt die Kriegssituation und deren Unsicherheit in den Zynismus; er ist derjenige, der den Befehl, Ryan zu finden, am wenigsten verstehen kann. Jeremy Davies Upham schließlich ist eine, wenn nicht die zentrale Figur in Spielbergs Geschichte. Er ist gebildet, wird von Miller als Übersetzer mitgenommen, hat keinerlei Kampferfahrung. Upham hat nicht nur Angst wie die anderen auch, er verzweifelt an dem, was ihm und den anderen geschieht. Seine Panik lähmt ihn, er ist traumatisiert und weiß besser als jeder andere, was geschieht. Die Figur Uphams ist die, die einem am nächsten steht, wenn man sich vorstellt, selbst in den Krieg ziehen zu müssen. Angesichts seiner Darstellung fallen die letzten Schranken von Patriotismus, Heldenmut, Opferbereitschaft. Upham ist terrorisiert durch den Krieg. Auf das, was hier passiert, ist er nicht vorbereitet. Und so ging es den meisten, die zwar möglicherweise in der Armee irgendwelche Übungen absolviert hatten, aber in den Krieg geworfen wurden wie in kaltes Wasser, ohne schwimmen zu können, das Ungeheuer vor sich, die Maschinerie, deren Todessequenz sich gnadenlos abwickelt, unaufhaltsam bis zum bitteren Ende.

    In welcher Situation ist ein Leben mehr wert als ein anderes? Dies ist die zentrale Fragestellung von „Saving Private Ryan“. Und noch so gelehrte Kommentare über die angeblich verfälschende Sichtweise Spielbergs über die Umstände des zweiten Weltkriegs können daran nicht rütteln. David Walsh liefert in der „World Socialist Web Site“ ein fürchterliches Beispiel, wie man diesen Film – man muss schon vermuten: gewollt – missverstehen kann. Seitenweise rekapituliert er seine Ansichten über die Rolle der verschiedenen Alliierten und dass Spielberg angeblich die USA als entscheidende Macht hinstelle, die Hitler in die Knie gezwungen habe. Erstens tut dies Spielberg nicht. Zweitens geht es ihm um etwas anderes. Und drittens könnte die Geschichte dieses Films auch in einem anderen Krieg des 20. Jahrhunderts angesiedelt sein.

    Ich behaupte sogar, dass „Private James Ryan“ sich jedes Patriotismus bzw. der Glorifizierung der Rolle der USA enthält. Die amerikanische Fahne sieht am Schluss sehr blass aus; sie dokumentiert, dass diejenigen, die am grünen Tisch die Weltgeschichte lenken wollen, in der Regel keine Vorstellung davon haben, was das für Millionen anderer bedeutet. Es wäre absurd, Spielberg vorwerfen zu wollen, die Rolle der sowjetischen Streitkräfte im Kampf gegen Hitler-Deutschland nicht gewürdigt zu haben. Auch eine solche Kritik schießt an den Intentionen dieses Films schnurstracks vorbei. In einer Szene äußert Miller eine Frage, die so schon oft gestellt worden ist: Wenn ich drei, fünf, zehn oder sogar hundert Männern das Leben retten kann, dafür aber einen töten muss, soll ich das dann tun? Wer entscheidet darüber? Wer hat das Recht, darüber zu entscheiden? Diese Frage bleibt in „Private James Ryan“ unbeantwortet. Wer eine Antwort kennt, möge sie geben – eine Frage übrigens, die paradoxerweise in Anhörungen von Kriegsdienstverweigerern in den 70er Jahren oft gestellt wurde, um das Gewissen der Kriegsdienstverweigerer zu „prüfen“. „Private James Ryan“ endet nicht in Patriotismus und Heldenmut. Der Film endet in Resignation, Verzweiflung, aber auch in der Hoffnung, das immer mehr Menschen solche Erfahrungen erspart bleiben. Als der alte Mann Jahrzehnte später vor dem Grab in der Normandie steht, fragt er seine Frau, ob er ein gutes Leben geführt habe, so, als frage er, ob er in seinem Leben dem Tod seiner Kameraden gerecht geworden ist, ob er es verdient habe, überhaupt weiter zu leben, während die anderem an diesem Ort des Grauens begraben liegen. So weit treibt es der Krieg.

    Neben „Platoon“ (1986, R: Oliver Stone), „Full Metall Jacket“ (1987, R: Stanley Kubrick), „Apocalypse Now“ (1979, R: Francis Ford Coppola) und „Wege zum Ruhm“ (1957, R: Stanley Kubrick) gehört „Saving Private Ryan“ für mich zu den besten Filmen des Genres, was amerikanische Filme dieser Art angeht. Es sind, wie gesagt, nicht die „realistischen“ Kampfszenen, sondern es ist ihr Kontrast zu der zentralen Frage, die Spielbergs Film zu einem der besten des Genres macht. Zwängt man diese Frage in ein politisches respektive ideologisches Korsett, zerstört man ihre zutiefst menschliche und lebenswichtige Substanz. Man mag sich fragen, ob dieses Genre Kriegsfilm nicht bereits völlig ausgereizt ist. Doch: Gibt es keine Kriege mehr?

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