Mein Konto
    Dem Himmel ganz nah
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Dem Himmel ganz nah
    Von Jan Görner

    Als Gott die Welt erschaffen hatte und sah, dass es gut war, legte er einer besonders gut gelungenen Stelle die segnende Hand auf – so will es zumindest eine karpatische Legende. Dabei blieb ein Streifen Land am Handballen des Herrn hängen und wurde gen Himmel mitgezogen. Diesen Landstrich kennen wir heute als den transsilvanischen Karpatenbogen. Er ist das karge Zuhause der Stancius, einer der letzten Berghirtenfamilien Europas, denen Titus Faschina mit seinem elegischen Schwarzweiß-Dokumentarfilm „Dem Himmel ganz nah" ein Denkmal setzt.

    Gemeinsam mit seiner Frau Maria und seinem Sohn Radu bewohnt Dumitru Stanciu eine Hütte ohne Strom oder fließend Wasser am Hochgebirgskamm. Sommers wie Winters muss die Herde versorgt werden. Weil Dumitru aber keine Mitarbeiter findet, müssen die Angehörigen selbst einspringen, um die Tiere zu schützen, zu scheren und zu melken. Die meisten Nachbarn haben das beschwerliche Leben bereits hinter sich gelassen – und sollte Radu den Berghof nicht übernehmen, stirbt mit Dumitru nicht nur eine Familientradition aus. Rhythmisch am Lauf der Jahreszeiten orientiert, liefert Faschina ein eindrückliches Zeitdokument aus einer Gegend, die wie aus der Zeit gefallen scheint. Hinter dem Eisernen Vorhang konnten sich jahrzehntelang Traditionen halten, die im restlichen Europa längst in Vergessenheit geraten sind. Nur wenige Flugstunden von Deutschland entfernt, an der Peripherie der Europäischen Union, lebt ein Stück vermeintliche Vergangenheit weiter...

    Regisseur Faschina hält sich bewusst im Hintergrund. Auch Kommentare aus dem Off gibt es nicht, die Familie Stanciu spricht für sich und den Film – allerdings nicht wirklich viel: Es scheint, als rede man in den Karpaten nur, wenn man auch gefragt wird. Im Gespräch mit Radu wird einer der faszinierendsten Aspekte dieses Lebenswandels greifbar: das Nebeneinander von Mythos und Moderne. Da wird erst recht abgeklärt über die Ausbildung zum Veterinärtechniker diskutiert, als der 16-Jährige plötzlich erläutert, dass man durch Blitzeinschläge verursachte Brände lediglich mit Milch oder Wein löschen könne. Auch solche Mythen drohen zusammen mit der Tradition der Berghirten auszusterben.

    In meditativen Bilderbögen fängt Faschina die raue Schönheit Transsilvaniens ein – ohne seinen Film darüber zur sehnsüchtigen Fantasie einer entschleunigten und erhabenen Welt verkommen zu lassen. Das entbehrungsreiche Leben der Familie Stanciu mag mitunter romantisiert werden, lange kalte Nächte auf Schafswacht und eigenhändiges Schlachten dürften sinnsuchende Großstädter jedoch zeitig abschrecken. Für Sentimentalitäten bleibt in einer so harten Umgebung schlicht keine Zeit. Platz für Gefühle bleibt trotzdem, allerdings eher hinter der Kamera: „Dem Himmel ganz nah" ist ein Projekt, das allen Beteiligten sichtlich am Herzen liegt – wer die Plackerei auf sich nimmt, ungeachtet der Jahreszeit und ohne teure Logistik im Rücken Drehausrüstung auf einen Bergrücken zu schaffen und dort eine Stromversorgung einzurichten, der muss seinen Beruf wirklich lieben. Von ihrem Publikum erwarten Faschina und seine Crew aber auch eine Geduld, die nicht jeder mitbringen wird.

    Fazit: „Dem Himmel ganz nah" ist ein in bedächtiger Schönheit inszenierter Nachruf zu Lebzeiten. Wenn Dumitru und seine Ehefrau schweigend im Regen sitzen und um sie herum die Höfe der weggezogenen Nachbarn verfallen, wird man zum Augenzeugen, wie langsam ein Stück europäischer Kultur für immer ausgelöscht wird. Nur die Karpaten, das gesegnete Land des Herrn, werden so schnell nicht verschwinden.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top