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    Leviathan
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Leviathan
    Von Michael Meyns

    Nichts Neues gäbe es mehr im Kino, wird manchmal von Puristen und Fatalisten geklagt: Alles sei schon gemacht, alles gezeigt worden. Doch auch nach fast 120 Jahren Filmgeschichte gibt es immer wieder Regisseure, die unbetretene Pfade des Erzählens finden, die die Entwicklungen der Technik auf ungewöhnliche, ja geradezu revolutionäre Weise nutzen und Filme machen, mit denen sie völlig neue Wege einschlagen. Den Anthropologen und Filmemachern Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel gelingt ein solcher Coup mit „Leviathan", einem Werk, das mit dem Begriff experimentelle Dokumentation nur annähernd beschrieben ist. Ein Jahr begleitete das Duo Hochseefischer vor der Küste Neu Englands bei der Arbeit und formte die Eindrücke in eine visuell und nicht zuletzt akustisch wahrhaft einnehmende Erfahrung. Auf diese Weise gelingt es ihnen, das Leben und die Arbeit auf hoher See nicht nur zu zeigen, sondern auch fühlbar zu machen.

    Dokumentarfilme sind oft auch anthropologische oder ethnologische Arbeiten, in denen eine spezifische Gruppe beschrieben wird. Im Laufe der Wissenschafts- und später der Filmgeschichte ist viel darüber debattiert worden, welches Verhältnis der Anthropologe bzw. Filmemacher zum Objekt seiner Studien hat: Beeinflusst die bloße Anwesenheit eines Fremden nicht das Verhalten einer Gruppe, die eigentlich objektiv beobachtet werden soll? Dieses kaum zu lösende Paradox führte zu unterschiedlichen Ansätzen, die mal größtmögliche Distanz forderten, dann intime Nähe als beste Methode anführten. An der amerikanischen Elite-Universität Harvard beschäftigt sich seit einigen Jahren das von Lucien-Castaing-Taylor geleitete „Sensory Ethnography Lab" (SEL) mit der Frage der anthropologischen Darstellung mit Hilfe moderner Medien.

    Zu den ersten Filmen, die aus der Arbeit des SEL entstanden, zählten Castaing-Taylors „Sweetgrass" und Véréna Paravels „Foreign Parts", in denen sie sich mit Viehtreibern bzw. Schrottplätzen beschäftigten. Über weite Strecken noch konventionellen Dokumentationen ähnelnd, ließen beide Filme schon erkennen, was „Leviathan" nun fast perfekt erfüllt: Das Eintauchen in eine fremde Welt, der Versuch mit filmischen Mitteln ein sinnliches Erlebnis zu schaffen. Auf Stilmittel wie Interviews, Texteinblendungen, Voice-Over-Kommentar und Musik wird dabei konsequent verzichtet, ein Kontext wird nicht geliefert, der Film und die Menschen, die er beschreibt, stehen ganz für sich.

    Immer wieder zogen Castaing-Taylor und Paravel mit Fischern in die stürmischen Gewässer vor der amerikanischen Ostküste hinaus und nahmen an Fangfahrten teil, die bis zu zwei Wochen dauerten. Mit kleinen, extrem robusten Digitalkameras filmten sie die Arbeit der Besatzung, nicht zuletzt aber auch das Meer, die Möwen, die das Schiff begleiteten, und sogar die Fische, die knapp unter der Wasseroberfläche auf Abfälle hofften. Dabei halten sie nicht immer Distanz, sondern versuchen ganz im Gegenteil oft größtmögliche Nähe zu erzeugen: Mit Helm- oder in Netzen und Fischhaufen positionierten Kameras gelingen ihn oft desorientierende, durch Nahaufnahmen zusätzlich verzerrte Bilder, die geradezu physisch erfahrbar sind. Verstärkt wird dieser Eindruck durch eine Tonspur, die das sonore, mechanische Brummen der Maschinen, das Quietschen von Lastkrägen und das Knarren des Schiffs artifiziell überhöht.

    „Leviathan" ähnelt dabei genauso wenig den um die objektive Abbildung der Wahrheit bemühten Vertretern des „Direct Cinema" (u.a. Frederick Wiseman) wie dem Ansatz vieler zeitgenössischer Dokumentarfilmer à la Michael Moore, denen es mehr darum geht, vorgefertigte Thesen zu bebildern und zu unterstreichen. Die Stilisierung, der Castaing-Taylor und Paravel sich bedienen, lässt Fragen nach Objektivität und Subjektivität ins Leere laufen. Gleich zu Beginn deutet ein Bibel-Zitat aus dem Buch Hiob die Dimension des Folgenden an: Von Hermann Melvilles „Moby Dick", der den Walfang in gleichen Gefilden schilderte, bis zu Thomas Hobbes philosophisch-staatstheoretischem Hauptwerk „Leviathan" reichen die Bezüge. Gleichermaßen werden die unwirkliche Schönheit der Welt und die Zerstörungskraft des Menschen, der gegen und mit der Natur kämpft und versucht, sie sich untertan zu machen, beschwört. Im Abspann werden dann Fischer und Fische gleichberechtigt nebeneinander erwähnt – ein finaler Hinweis auf den in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Ansatz, den Lucien-Castaing-Taylor und Véréna Paravel mit ihrem außerordentlichen Film gewählt haben.

    Fazit: Mit „Leviathan" gelingt den Anthropologen und Filmemachern Lucien-Castaing-Taylor und Véréna Paravel eine optisch, akustisch und intellektuell beeindruckende Weiterentwicklung der dokumentarischen Form. Ihr Film über Hochsee-Fischer vor Neu England ist ein sinnliches Erlebnis, das unbedingt auf größtmöglicher Leinwand erlebt werden sollte.

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