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    The Hateful 8
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Hateful 8
    Von Björn Becher

    Quentin Tarantinos „The Hateful 8“ hat eine bewegte Vorgeschichte. Nachdem das Drehbuch ungeplant an die Öffentlichkeit gelangte, wollte der „Django Unchained“-Regisseur das Projekt zunächst komplett abblasen. Nach einer öffentlichen Lesung des Skripts mit vielen Schauspielern der geplanten Besetzung überlegte er es sich aber anders und verwirklicht seither gewohnt kompromisslos seine Vorstellungen. So entschied er sich, Kameraobjektive aus der Mottenkiste zu holen, die seit den 1960er Jahren nicht mehr zum Einsatz gekommen sind, und den Western im Ultra Panavision 70-Breitbildformat aufzunehmen - wohlwissend, dass es nur noch wenige Kinos gibt, die seine Idealversion auf die Leinwand bringen können. Auch beim Dreh selbst ging der Regisseur immer wieder den schwierigen Weg und bestand etwa darauf, in einer echten Schneelandschaft zu filmen, was sich als noch komplizierter erwies als erwartet, weil plötzlich sogar im eigentlich schneesicheren Colorado die weiße Pracht ausblieb. Aber die Mühen haben sich gelohnt: „The Hateful 8“ ist ein typischer, ebenso wortgewandter wie bildgewaltiger Tarantino, zugleich ist er aber vielleicht auch der bisher sperrigste und exzessivste Film im Schaffen des Regisseurs. So lässt er sich extrem viel Zeit, um das Setting sowie die Figuren zu etablieren und nimmt sich dabei allerhand erzählerische Freiheiten. Wer es lieber zielstrebig mag, der muss sich bis zur zweiten Filmhälfte gedulden, denn dann entlädt sich die stetig gesteigerte Spannung in einer blutig-brutalen nihilistischen Farce.

    An Bord der Postkutsche des Fahrers O.B. (James Parks) fährt der berüchtigte Kopfgeldjäger John Ruth (Kurt Russell) mit seiner Gefangenen Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) durch das verschneite Wyoming. Ein Schneesturm ist im Anmarsch, und man will an der Kutschstation bei „Minnies Miederwarenladen“ Zuflucht suchen. Sehr zum Missfallen des misstrauischen Ruth gesellen sich bald noch zwei im Schnee gestrandete Personen dazu: Major Marquis Warren (Samuel L. Jackson) kämpfte einst im Bürgerkrieg und ist nun ebenfalls Kopfgeldjäger, während der verschlagene Chris Mannix (Walton Goggins) vorgibt, der neue Sheriff von Red Rock zu sein, dem eigentlichen Ziel der Passagiere. Die kleine Gruppe erreicht bald den Unterschlupf, wo sich bereits ein Quartett verschanzt hat: Der Mexikaner Bob (Demián Bichir) behauptet, den Laden in Abwesenheit von Besitzerin Minnie zu führen; der redegewandte Brite Oswaldo Mobray (Tim Roth) erklärt, der Henker in der Gegend zu sein; der wortkarge Kuhhirte Joe Gage (Michael Madsen) will angeblich nur seine Mutter zu Weihnachten besuchen. Und schließlich kauert in einem Sessel noch die Südstaaten-Kriegslegende General Sandy Smithers (Bruce Dern). Schnell kommt es zu Konflikten innerhalb der Zufallsgemeinschaft und bald steht fest, dass nicht alle Anwesenden die Station lebend wieder verlassen werden…

    +++++INTERMISSION: Die verschiedenen Versionen von „The Hateful 8“+++++

    „The Hateful 8“ kommt in mehreren Fassungen in die Kinos, die sich nicht nur technisch, sondern teilweise auch inhaltlich voneinander unterscheiden. Regisseur Tarantino will, dass die Zuschauer den Film möglichst in der sogenannten „Roadshow-Version“ sehen. Diese Fassung läuft in Deutschland allerdings nur in weniger als einer Handvoll Kinos, denn hier wird der Film in einer analogen 70mm-Filmprojektion vorgeführt und es gibt kaum noch Lichtspielhäuser, die mit der nötigen Technik ausgestattet sind. Tarantinos Premium-Variante ist mit insgesamt 187 Minuten Laufzeit zudem 20 Minuten länger als die reguläre Kinofassung, die sowohl als 35mm-Filmkopie als auch als digitale DCP-Kopie gezeigt wird. Dieser deutliche Unterschied ergibt sich vor allem aus der dramaturgisch gezielt eingesetzten Intermission in der Roadshow-Fassung, einer vom Regisseur vorgeschriebenen zwölfminütigen Pause. Dazu kommt noch eine musikalische Ouvertüre vor dem eigentlichen Vorspann, sodass es am Ende nur wenige Minuten zusätzlicher Filmszenen in der langen Variante gibt. Der wichtigste Unterschied zwischen der Roadshow- und der Standardversion ist aber letztlich das Bild selbst. Die Ultra Panavision 70-Aufnahmen können in der Roadshow-Präsentation im originalen extrabreiten Seitenverhältnis von 2,76:1 ihre volle Pracht entfalten, während die „normale“ Kinofassung durch den Einsatz schwarzer Balken etwas reduziert wirkt.

    In der Berliner Pressevorführung wurde die Roadshow-Version gezeigt, auf dieser Fassung basiert auch die Kritik. Auf der offiziellen deutschen Webseite erfahrt ihr, wo in Deutschland die Roadshow-Version gezeigt wird.

    +++++INTERMISSION-ENDE+++++

    Wenn sich in der Roadshow-Fassung langsam der Vorhang öffnet und dann die fast elegische, unterschwellig brodelnde Ouvertüren-Musik von Altmeister Ennio Morricone („Spiel mir das Lied vom Tod“) erklingt, dann weckt der Filmfan Quentin Tarantino sogleich nostalgische Gefühle bei den Kinoliebhabern. Und in der Folge gibt er dem Publikum immer wieder Gelegenheit, in den perfekt arrangierten Bildkompositionen seines für die Arbeit an dem Film einmal mehr für den Oscar nominierten Stammkameramanns Robert Richardson („JFK“, „Aviator“) zu schwelgen – schon die ausgedehnte Titelsequenz ist mit einer majestätischen Aufnahme einer verschneiten Christusstatue unterlegt. Es werden Erinnerungen an alte Monumentalfilme genauso wie an Klassiker des Italo- und Spätwesterns geweckt, wie immer geht es bei Tarantino sehr beziehungsreich und zugleich sehr eigenständig zu. Bis hin zu den Figurennamen und der Zigarettenmarke überlasst der Regisseur natürlich nichts dem Zufall und gerne hält er sich auch mit scheinbar nebensächlichen Details und Dialogen auf – so dauert es mehr als eine halbe Stunde bis alle Hauptfiguren das erste Mal aufgetreten sind und bis wir sie alle ein wenig besser kennen - oder zumindest zu kennen glauben – ist bereits fast die Laufzeit eines durchschnittlichen Spielfilms erreicht.

    In der ersten Filmhälfte dominieren die Dialoge. Erst beharken sich kleinere Gruppen, ehe sich die sieben Männer und eine Frau in Minnies Hütte (der unbescholtene Kutscher O.B. bleibt etwas vor) belauern. Immer wieder zieht dabei jemand eine Waffe, aber die Duelle werden vorerst noch mit Worten ausgetragen und nicht mit Kugeln. Wie auf einem Schachbrett oder einer Theaterbühne bringt Tarantino die Figuren in Stellung, die taktischen Finessen des Gerangels übersetzt er nicht nur in gewohnt brillante, teilweise auch urkomische Dialoggefechte, sondern auch in sinnfällige Breitwandbilder. So nutzt er immer wieder das gesamte Bildfeld in der Breite und in der Tiefe, um Oppositionen, Koalitionen und Konfrontationen zu verdeutlichen oder einfach nur eine andere Figur ins Bild rücken zu lassen. Die Hauptperson ist dabei in gewisser Weise der Puppenspieler Tarantino, was noch unterstrichen wird, wenn der Filmemacher plötzlich auch als Erzähler auf dem Off unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Einzelheiten lenkt. Die Eigenständigkeit der recht stereotyp angelegten acht Titelhelden hält sich da zwangsläufig in Grenzen, ihre Manöver sind trotzdem faszinierend – zumal hier kaum jemand das ist, was er zu sein vorgibt.

    Gut oder Böse - solche Grenzen gibt es in „The Hateful 8“ schon früh nicht mehr. Der hier porträtierte Westen ist ein Feld der moralischen Grauzonen, blütenweiße Helden sucht man hier vergeblich – eher findet sich das Gegenteil - und mit einer Ausnahme (die hier aus Spoilergründen nicht genannt wird) entwickelt sich keine der Figuren in auffallender Weise weiter. Dennoch gewinnen fast alle Darsteller ihren recht einfach gestrickten Parts spannende Facetten ab und füllen sie überzeugend mit Leben. Nur Michael Madsen mit seinen undeutlich dahingemurmelten Sätzen, seinem schlecht gefärbten Haar und dem bunt-lächerlichen Outfit fällt gegenüber dem Rest der Mannschaft ab, nie lässt sich sein angeblich memoirenschreibender Kuhtreiber ernstnehmen. Kurt Russell dagegen zeigt als grimmiger Menschenjäger eine unerwartet sanfte Seite, wenn er sich wie ein kleines Kind über die Brieffreundschaft des Kollegen Marquis Warren mit Abraham Lincoln freut. Auch Tim Roth, der zwanzig Jahre nach „Four Rooms“ endlich zum vierten Mal für Tarantino vor der Kamera stand, lässt als vorgeblicher Henker einige weniger düstere Nuancen aufblitzen, während Samuel L. Jackson trotz absurder Glatze mal wieder die Coolness in Person ist und als Erzähler einer für einige Anwesende schwer verdaulichen Geschichte regelrecht aufblüht. Die beiden größten Trümpfe im Cast sind indes Walton Goggins und Jennifer Jason Leigh.

    Der angebliche Gesetzeshüter Chris Mannix ist ein Opportunist wie er im Buche steht - mit seiner Verkörperung des dampfplaudernden Wendehalses, der sich selbst aus den misslichsten Lagen herausreden kann, erinnert Walton Goggins an seine herausragende Darbietung in der TV-Serie „Justified“ und Quentin Tarantino zeigt, dass er es wie kaum ein zweiter versteht, den richtigen Schauspielern die richtigen Dialogzeilen in den Mund zu legen. Das gilt auch für Jennifer Jason Leigh, die einzige Frau in der Hauptbesetzung. Sie verleiht ihrer Figur eine diabolisch-furchteinflößende Aura, die entscheidend zur bedrohlichen Atmosphäre des Films beiträgt. Obwohl sie angekettet ist und Schlag um Schlag kassiert, ist sie die einzige, die eine Art von Kontrolle über die Geschehnisse in der Hütte zu besitzen scheint und es wirkt, als könnte sie jederzeit noch ein Ass aus dem Ärmel zaubern. Für ihre faszinierende Darstellung erhielt Leigh ihre längst verdiente erste Oscar-Nominierung, ihre kraftvolle Performance steht dabei auch im Widerspruch zu den Misogynie-Vorwürfen, die in den USA gegen den Film laut geworden sind. Die ständigen Schläge gegen die gefangene Daisy sind tatsächlich fast schon so etwas wie ein Running Gag, der ähnlich wie eine schlecht schließende Tür für komische Momente zwischendurch sorgen soll, aber durch die sorglosen Übergriffe wird letztlich vor allem die Frauenfeindlichkeit der Männer im Film entlarvt und passt zu dem trostlosen Bild von Amerika, das Tarantino hier zeichnet.

    „The Hateful 8“ ist sogar noch vor „Inglourious Basterds“ der bisher politischste Film eines Regisseurs, dem seine Gegner gern vorwerfen, dass er sich nur für seine Kinowelten interessiert und reale Probleme verharmlost. Wie der einst ebenso harsch kritisierte und oft unverstandene Sam Peckinpah („The Wild Bunch“) nutzt Quentin Tarantino seinen Western für ein schonungsloses Sittenbild der amerikanischen Gesellschaft. Die Gewalt durch Autoritäten – es ist sicher kein Zufall, dass Tarantino ausgerechnet während und nach der Arbeit an diesem Film an Demonstrationen gegen Polizeibrutalität teilnahm – und die Unterdrückung von Minderheiten sind dabei nur zwei der heute noch brennend aktuellen Themen, die der Filmemacher aufgreift. Die ungleichen Machtverhältnisse stützen sich auch auf die mythischen Gründungserzählungen im Western – und diese traditionellen Stereotypen nimmt Tarantino im fertigen Film noch deutlicher aufs Korn als in den verschiedenen bekannt gewordenen Drehbuchfassungen. Es ist etwas faul im Staate USA: Die Repräsentanten der öffentlichen Ordnung sind machtbesessene Zyniker oder rassistische Einfaltspinsel und generell regiert der Egoismus. Da ist es kein Wunder, dass sich die Konflikte in Gewalt entladen.

    Dass es haufenweise Ähnlichkeiten und Querverweise zu anderen Tarantino-Filmen gibt, gehört bei diesem ebenso selbstreflexiven wie selbstbewussten Regisseur einfach dazu und es würde den Rahmen sprengen, im Detail darauf einzugehen. Wenn in „Inglourious Basterds“ beispielsweise eine lange Dialogpassage in einer Keller-Kneipe plötzlich in Gewalt umschlägt, dann ist diese Szene so etwas wie eine Miniaturversion von „The Hateful 8“, in dem die gleiche Entwicklung auf drei Stunden ausgedehnt wurde. Mit dem Wechsel vom Dialog-Drama zum Gewalt-Western vollzieht Tarantino einen klaren Stilbruch, der in der Roadshow-Version noch deutlicher hervorgehoben wird: Direkt nachdem die erste Kugel abgefeuert und die erste Person gestorben ist, folgt die vorgeschriebene zwölfminütige Pause. Ist „The Hateful 8“ bis zu diesem Punkt eine – abgesehen von einer Mini-Rückblende - geradlinig erzählte Geschichte, setzt der Regisseur nun verstärkt auf Zeitsprünge und Perspektivwechsel, wie wir es von ihm etwa aus „Pulp Fiction“ und „Kill Bill“ kennen. Vor allem aber schaltet er jetzt nicht nur ein oder zwei Gänge hoch, sondern er beginnt gleichsam einen ganz neuen, ganz anderen Film.

    Die erhitzten Dialoge bleiben, aber nun werden sie in Bächen von Blut ertränkt. Unterstützt von Splatter-Experte Greg Nicotero („The Walking Dead“) sorgt Tarantino für explodierende Köpfe und andere unappetitlich-schonungslose Einzelheiten. Die Brutalität wird gnadenlos ins Comichafte überhöht, die Gewalt systematisch überzeichnet. Die Einführung eines Whodunit-Plots erweist sich bald als Ablenkungsmanöver, die Ermittlungen in Agatha-Christie-Manier unterbrechen das Gemetzel nur für ein paar Minuten, bevor doch wieder die Waffen sprechen. Und selbst das späte große Rückblenden-Kapitel eignet sich nur kurz zum Durchschnaufen. Denn schon kurz nach der Kapitelüberschrift wird klar, dass es auch hier Tote geben wird. Wie schon in „Django Unchained“ ist der Gewaltexzess Programm, die Wendung ins Brutale ergibt sich gleichsam zwangsläufig. Anders scheint (fast) keine der Figuren fähig, Konflikte zu lösen.

    Fazit: Mit dem aus zwei sehr unterschiedlichen Hälften bestehenden Western „The Hateful 8“ beweist Quentin Tarantino einmal mehr, warum er zu den außergewöhnlichsten und kompromisslosesten Filmemachern unserer Zeit gehört – wobei er es seinem Publikum allerdings auch nicht ganz leicht macht.

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